Wir irren stündlich

Über Susanne Regeners Versuch zur Erschütterung visueller Gewißheit

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch zur physiognomischen Deutung des "Kriminellen", es kommt zur rechten Zeit. Im "War of Sciences" hat sich die Natur- als Biowissenschaft alle gesellschaftliche Deutungsmacht angeeignet; der alte Abgrund zwischen Geist und Körper ist zur haarfeinen Linie geschrumpft, das Human Genome Projekt als ihr gigantisches Tip-ex unterwegs. Die Geschichte dieser Annäherung ist zu großen Teilen eine der Physiognomik. Aber gibt die Physis des Menschen tatsächlich Auskunft über eine seelisch-moralische Konstitution? Seit sie aus den okkulten Dunkelkammern des Wissens ans Licht trat, ist die Physiognomik bezweifelt worden; der Streit zwischen Lavater und Lichtenberg hat den Zweifel berühmt gemacht. Doch auch wer vernünftig mit Lichtenberg argumentiert - "wir irren stündlich" -, sieht sich ab 1800 einer Phalanx von naturwissenschaftlich inspirierten, fotografisch gestützten Techniken gegenüber, die stündlich recht haben wollen. Mit Francis Galton, Cesare Lombroso und Adolphe Bertillon - alle von der Autorin ausführlich behandelt - treten wissenschaftliche Großmächte auf den Plan: Galton mit seinen "composite portraits" im Dienst der Rassenkunde, Lombroso mit seiner vergleichenden Physiognomik des "L'Uomo delinquente" als Begründer der Kriminalanthropologie, Bertillon mit dem Verfahren des "portrait parlé" und der erkennungsdienstlichen Fotografie im Dienst der Polizeiwissenschaft. Gewissheit über die böse Natur von Menschen über Außendaten zu erlangen ist offenbar ein mentaler Rohstoff teuerster Sorte. Man lässt ihn sich etwas kosten, und wer ihn hat, gibt ihn nicht wieder her, sondern wuchert damit. Was aus den Axiomen des 19. Jahrhunderts im frühen zwanzigsten wurde, wissen wir alle: der Umschlag in Rassenwahn und Eugenik, in die buchstäbliche Anwendung infamer Anthropotechniken. Erst seit ein paar Jahren ist öffentlich bekannt, dass gleich nach dem zweiten Weltkrieg große Teile des eugenischen Programms wieder aufgelegt wurden oder gar nie beiseitegelegt worden waren, wie in den USA und in den skandinavischen Ländern.

Wissenschaftliche Anläufe zur "Dekonstruktion" der gängigen Vorurteile haben sich demgegenüber nicht durchsetzen können; oder doch nur bei gesellschaftlichen Gruppen, die gewöhnlich nicht bei der Polizei arbeiten. Eben diese könnte, nein sollte sich aber für die Habilitiationsschrift von Susanne Regener interessieren, einem intensiven Plädoyer für die bildliche "Konstruktion" des Bösen. Seit ihrer Dissertation bewegt sich die Autorin auf dem Feld zwischen kriminalistischer, psychiatrischer, Rassen- und gender-Physiognomik, in jenem Grenzgebiet also, das zuletzt 1988 Peter Strasser unter dem Titel "Verbrechermenschen" höchst kritisch behandelt hat. Was er eine "kriminalwissenschaftliche Erzeugung des Bösen" nannte, heißt bei Regener "mediale Konstruktion des Kriminellen" - und die Frage ist, ob die zwölf Jahre, die zwischen beiden Büchern liegen, hier neue Aspekte erbracht haben, feinere Methoden, um den hartnäckigen Naturalismus aufzubrechen. Immerhin sind zahlreiche Einzelstudien, vor allem zu fotohistorischen Komplexen, in diesen zwölf Jahren geschrieben und der Sinn für die fatale Assoziation von Foto und naturalistischer Evidenz postmodern geschärft worden. Regener fasst nicht nur die Ergebnisse höchst verdienstvoll zusammen. Sie benennt das Dilemma der Medienforschung in diesem Felde: "Offenbar ist jede Bildform geeignet, den Menschen als Kriminellen darzustellen. Oder nehmen wir erst durch die technische Manipulation ein Bild als Verbrecherbild wahr?" Die Antwort lautet: es ist alles noch komplizierter. Wie die Bilder großer Kunst müssen wir auch die alltagsweltlichen Bilder lesen lernen, besonders jene von Kriminellen. Wir müssen sie in den Kontext zurückstellen, aus dem sie entstanden sind, wir müssen ihre Gebrauchsweisen kennen und die technischen Bedingungen ihrer Entstehung, ihre Wanderungen von Hand zu Hand und Archiv zu Archiv. Vor allem müssen wir die Texte kontrollieren, mit denen sie versehen, verteilt und ins öffentliche Bewusstsein eingeschrieben werden. Diese ganzen Filiationen werden von Regener mit großer Sorgfalt rekapituliert. Schon das "Körperarchiv", vulgo Gruselkammer des Cesare Lombroso lehrt als "Schule des Sehens" die natürlichen Ansichten: Verbrecheralben, wie sie seit 1870 von der Polizei verwendet werden, Wachsmasken und Gipsabdrücke, Schädel, eingelegte Hirne, konservierte Hautfetzen mit Tätowierungen, Skelette und so fort. Keineswegs nur auf Verbrecher beschränkt, vielmehr jegliche soziale Devianz einbeziehend.

Programm und These der Autorin lauten, dass derartige Artefakte, besonders aber die Fotografien kraft ihres Anspruchs auf sinnenfällige Evidenz vor allem in den Händen der Wissenschaftler zu "Dokumenten symbolischer Erfassung" werden - der klassische Anspruch der Physiognomik, die überhaupt womöglich als intellektuelle Vorläuferin der Fotografie zu begreifen ist. Deren Dokumentationen für einen Zeitraum von hundert Jahren in europäischen Archiven in Deutschland, Dänemark und Italien recherchiert und evaluiert zu haben, ist das materielle Verdienst des Buches.

Bemängeln könnte man vielleicht manche Verallgemeinerungen die zur Theorie überführen sollen. Ein Satz wie "Fotografien werden von Wissenschaftlern benutzt, um an ihnen den gesellschaftlichen Feind ausfindig zu machen", beweist nur unfreiwillig, was die Autorin sagen will: denn im Gebiet der Texte, vor allem der wissenschaftlichen, haben Aussagesätze den Status der Fotografie, erheben wie diese Anspruch auf Objektivität, sind aber wie diese nur im Kontext verständlich. Schließlich benutzen auch Kunstwissenschaftler Fotografien, und die Geschichte der Fotografie ist selber zu Teilen eine solche der Kunst.

Überhaupt suggeriert das ganze Thema dort, wo es nicht um historische-materiale Detailarbeit sondern um die theoretische Fundierung geht - Regener beruft sich auf Foucault und auf neuere Arbeiten zur Fotografie als symbolischem Objekt - einen unausgesprochenen ästhetischen Hintergrund. Mag man die intellektuelle Gesellschaft des 19. Jahrhunderts auch noch nicht als "Wissensgesellschaft" apostrophieren, so doch als "Wissensdurstgesellschaft", und dies eben auch im Felde der Kunst. Wie das Böse, so wurde ja auch das Gute im Bilde dingfest gemacht; neben Verbrecheralben gab es immer auch Familienalben und Fotoserien im Dienst nationaler oder geistiger Erhebung. Das Pantheon in Gestalt von Foto-Bildbänden begleitet die fieberhafte Klassifizierung der Verbrecher im Bild; und der Glaube an die Einheit des Schönen mit dem Wahren und Guten konterkariert sein Gegenteil. In dieser Lesart wird das Verbrecherbild zur "Figur auf Grund"; aber erst beide zusammen konturieren eine Gesellschaft, die sich mehr und mehr auf die Außensicht ihrer selbst konzentriert und die sogenannte Seele eskamotiert. Hätte nicht Sigmund Freud mit seiner entschiedenen Absage an das halb hypnotische, halb physiognomische Projekt des Psychiaters Charcot den Weg zurück zur Sprache, zum bewussten Dialog mit dem kranken outsider gefunden - die Innenansicht des Menschen, und damit seine Geschichte wären schon um die Jahrhundertwende verschüttet worden. Was daraus heute geworden ist, dass auch die unerhörte Weiterentwicklung visueller Repräsentation durch Film und Cyberwelt das Motiv der Stigmatisierung nicht wirklich zu dekonstruieren vermocht hat, bestätigt Regener am Schluss des Bandes. Porträtfotografien spielen seit 1945 zwar offiziell keine Rolle mehr für die Deutung von kriminellen Gesichtern. Der medical turn im kriminalanthropologischen Diskurs hält dennoch an der Sichtbarkeit des Bösen fest - wenn nämlich in vergleichender Neurophysiologie deviante Hirnströme gemessen und aufgezeichnet werden. Von hier aus bis zur gentechnischen Fixierung des Bösen, bei gleichzeitigen Heilsversprechen, ist nur ein Schritt. Er wird als Anthropotechnik dem nächsten Jahrtausend gehören.

Titelbild

Susanne Regener: Fotografische Erfassung.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
296 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770534328

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