Breites Spektrum ästhetischen Denkens

Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg geben einen neuen Band des "Internationalen Jahrbuchs des Deutschen Idealismus" heraus

Von Andreas KorpásRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Korpás

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Verlag Walter de Gruyter erscheint seit dem Jahr 2003 das "Internationale Jahrbuch des Deutschen Idealismus". Nach den thematischen Schwerpunkten "Konzepte der Rationalität" (2003), "Der Begriff des Staates" (2004), "Deutscher Idealismus und die gegenwärtige analytische Philosophie" (2005) liegt nun der Fokus auf dem Zusammenhang zwischen Kunst und der Philosophie der Kunst. Das Zeitalter des Idealismus wird als Geburtsstunde des neueren Denkens über die Kunst unter philosophischem Blickwinkel betrachtet.

Das Jahrbuch vereint sehr unterschiedliche Beiträge, so unter anderem zu "Hegels Kritik an Kants Theorie des ästhetischen Urteils" (Werner Euler), über "Das Erhabene bei Kant und Hegel" (Alessandro Bertinetto), über "Grundzüge der Ästhetik Fichtes" (Petra Lohmann) und "Die Ästhetik Schleiermachers im Kontext der modernen Poetologie" (Claus-Dieter Osthövener). Dabei stehen Beiträge in deutscher Sprache neben englischsprachigen (Lydia Goehr: "The Ode to Joy. Music and Musicality in Tragic Culture"; Richard Eldridge: "Hegel, Schiller, and Hölderlin on Art and Life"; Gregg M. Horowitz: "The Residue of History. Dark Play in Schiller and Hegel"; Angelica Nuzzo: "Hegel's ,Aesthetics' as Theory of Absolute Spirit" und Paul Guyer: "Freedom of Imagination. From Beauty to Expression").

Die Folge der Beiträge wird eingeleitet mit dem Abdruck einer Diskussion zwischen dem bedeutenden Vertreter der Philosophy of Art, Arthur Danto und dem ausgezeichneten Kenner des Deutschen Idealismus Dieter Henrich. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Bedeutung der Ästhetik im Hinblick auf die zeitgenössische Kunst.

In seinem Beitrag zu Hegels Rezeption der Kant'schen Theorie des ästhetischen Urteils arbeitet Werner Euler eine zweifache Absicht Hegels heraus. Zum einen würdige Hegel Kants kritische Leistung hinsichtlich der Idee des Schönen, "indem er ihre [...] fortschrittlichen Momente systematisch einordnet", zum anderen verweise er auf "die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, indem er deren Inkonsequenzen und Mängel aufdeckt."

Für Kant bedeute die ästhetische Idee die Gesamtheit des Schönen. Hegel hingegen erweitere den Kant'schen Begriff des Schönen zu einer Einheit von Zweck und Mittel. Dabei setze er auf den "intuitiven Verstand", für den das Allgemeine und das Besondere im Denken zusammenfällt: "Deshalb muß der intuitive Verstand als Instanz auch der Anschauung der ästhetischen Idee zugrunde gelegt werden, die sich als intellektuelle Anschauung auf das Schöne und als anschauender Verstand auf das Lebendige richtet."

Für das ästhetische Urteil wird von Kant eine Freiheit gefordert, die ein unbeschränktes Spiel zwischen Verstand und Einbildungskraft ermögliche. Der aus Kants "Kritik der Urteilskraft" bekannte Begriff des "interesselosen Wohlgefallens" hat hier seine Wurzeln. In einem weiteren Punkt verweist Euler auf den Aspekt der "Zweckmäßigkeit des Schönen". Dies sei eine "Zweckmäßigkeit ohne Zweck", die Kant auch als "subjektive formale Zweckmäßigkeit" beschrieben habe. Darüber hinaus sei nach Hegel das Schöne in seiner Wahrnehmung nicht nur interesselos, sondern auch "notwendig". Euler deutet die Interpretation der Kant'schen "Kritik der Urteilskraft" hinsichtlich des ästhetischen Urteils als Beweis dafür, dass ",das Eine' (z. B. der Begriff) und 'das Andere' (z. B. der Gegenstand) einander 'durchdringende' Bestimmungen sind in dem Sinne, daß keines von beiden ohne das Andere bestehen kann."

Hegel gehe es, so Euler, in seiner Auseinandersetzung mit Kant vor allem um den Begriff der Idee, den er "sowohl auf der Seite der empirischen Erscheinung des schönen Gegenstandes als auch auf der Seite des reflektierenden Subjekts im Geschmacksurteil - entdecken kann." Er gehe aber über Kant hinaus, wenn das "Fürsichbestehen" beider Polen anerkannt werden muss.

Im nachfolgenden Beitrag setzt sich Alessandro Bertinetto mit dem Begriff des Erhabenen bei Kant und Hegel auseinander. Im Hinblick auf Kants Begriff sei eine Differenzierung in das "Mathematisch-Erhabene" und das "Dynamisch-Erhabene" charakteristisch. "Das Erhabene" selbst gehe "aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft zu der von der Vernunft geforderten absoluten Totalität 'als eine reelle Idee'" hervor. Für die Einbildungskraft sei ein Streben signifikant, "sich unendlich zu erweitern". Das "Dynamisch-Erhabene" betreffe "die Vernunft in ihrer praktischen Funktion". Gegenüber Burke hatte Kant das Gefühl des Erhabenen nicht mehr als Ausdruck des Schreckens und als Schaudern vor der Bedrohung der eigenen Existenz verstanden, sondern als Moment eines Darüber-hinaus-gehens im Augenblick der absoluten Vergessenheit der Sorge um "Güter, Gesundheit und Leben". Bertinettos These ist, dass sich das Erhabene, sowohl bei Kant als auch bei Hegel, nur über seine Negativität darstellen lasse: "Die Negativität der Darstellung ist das, was das Erhabene als solche ausmacht." Eben weil eine Erkenntnis des Übersinnlichen als unmöglich verneint wird, ist das Gefühl des Erhabenen möglich. Denn die Reflexion über das was verneint wird, vermittelt den Gegenstand in die Wirklichkeit des Gedachten. "Somit wird eine epistemologische Theorie des Erhabenen nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern gerade im Gegenteil begründet [...]".

In ihrem Beitrag "Grundzüge der Ästhetik Fichtes. Zur Bedeutung der Ästhetik für die Wissenschaftslehre anläßlich des Horenstreits" arbeitet Petra Lohmann die Ästhetik Fichtes heraus, die an keiner Stelle im Zusammenhang dargestellt wurde, aber aus verschiedenen Schriften rekonstruiert werden kann. Lohmann konzentriert sich dabei auf die frühen Schriften zur "Practischen Philosophie" (1794), den "Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie" (1794) sowie die Schrift "Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre" (1794). Der so genannte "Horenstreit" zwischen Friedrich Schiller und Johann Gottlieb Fichte war 1795 an der Weigerung Schillers entbrannt, Fichtes Schrift "Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie" (1794) in der Zeitschrift "Die Horen" zu veröffentlichen. Es ging darüber hinaus um die grundsätzliche Frage, welcher Bereich und welche Funktion der Einbildungskraft zugestanden werden solle. Fichte war gewillt, der Einbildungskraft einen weitaus größeren Spielraum als Schiller zu geben. Schillers Kritik an Fichte bestand darin, dass dieser "nichts als Geist in den schönen Künsten" zeigen wolle. Für Fichte aber war die Philosophie selbst die höchste Form der Kunst. Fichte hatte über Schiller geäußert, dass er zwar bewundert, aber "weniger gelesen, und gar nicht verstanden worden" sei. Indessen hatte Schiller mit seiner ästhetischen Theorie ein ausgesprochen politisches Interesse, denn, so Lohmann, es sei die Schönheit, "durch welche die Mißstände einer bloß theoretischen Kultur ausgeglichen werden können." Freiheit gründe sich letztlich auf Schönheit, die das Individuum auf "Vernunft, Gesetz und moralische Freiheit" vorbereite. Beiden Philosophen gemeinsam ist die Absicht zur Erziehung auf einen allgemein gültigen Freiheitsbegriff hin. Allerdings vertreten sie sehr unterschiedliche Positionen in Fragen der Ethik. Während Fichte sich eher an den Kategorischen Imperativ Kant'scher Prägung anlehnt, hat Schiller eine Verbindung von moralischem Handeln und künstlerischer Tätigkeit im Blick.

Claus Dieter Osthövener greift mit Friedrich Schleiermachers einen bislang für die ästhetische Diskussion weniger beachteten Autor auf. Für Schleiermacher sei es von Bedeutung, so Osthövener, seine Ästhetik in den Rahmen einer Ethik zu verorten. "Dies verbindet sich wiederum mit der Einsicht, daß kein menschliches Dasein gänzlich ohne künstlerische Tätigkeit gedacht werden kann." Die Ethik gilt als Beschreibung dessen, was den Geist umtreibt. Schleiermacher verfüge über einen sehr weit gefassten Begriff von Ästhetik, die sich auch in einem sittlich geführten Leben, in wissenschaftlichen Abhandlungen, Volksfesten oder Gottesdiensten auffinden lasse. Der künstlerische Produktionsprozess gliedere sich bei Schleiermacher in die "Momente der Erregung, der Urbildung und der Darstellung."

Kunst gehe immer aus Begeisterung hervor. Zwischen die Erregung und die Kunstäußerung tritt bei Schleiermacher als weiteres Moment die "Besinnung". Kunst ist deshalb als Kunst zu verstehen, weil der Betrachter in sich selbst ein produktives Element besitzt. Künstler werden damit zu "Dollmetschern" (sic!), "deren Arbeit allerdings in ihrem vollen Umfang und in ihrer inneren Vollendung' 'nur ihren Kunstgenossen ganz erkennbar ist'". Eine besondere Bedeutung messe Schleiermacher, im Umkreis der Romantik stehend, der Poesie zu. Sie sei "die zur Freiheit gewordene Productivität in der Sprache nach ihrem musikalischen Element". Insbesondere der Roman könne "das gewöhnliche Leben seiner Totalität nach zur Anschauung bringen."

Die an Schleiermacher entwickelte Ästhetik wendet Osthövener in einem weiteren Schritt auf die Poetologie Robert Musils und Peter Handkes an, in deren ästhetischen Konzeptionen er Parallelen zu Schleiermacher findet. In einem letzten Schritt arbeitet der Verfasser die Aktualität der Schleiermacher'schen Ästhetik heraus. Er sieht in ihr "eine besonders markante Konzeption innerhalb der neueren Diskussion um das Wesen und die Funktion der Kunst". Schleiermacher ist im Lichte des Osthövener'schen Beitrags eine Übergangsfigur zwischen romantisch-idealistischen Entwürfen und ihrer teilweisen Umsetzung in der Poesie der Moderne und Postmoderne.

Lars-Thade Ulrichs skizziert in seinem Beitrag eine starke Parallele zwischen Kunsttheorien um 1800 und dem vorherrschenden organizistischen Paradigma. Seine These ist, dass "das Kunstwerk als Organismus zu einem Spiegel des Weltganzen wird." Dabei erhält Kunst über ihren mimetischen Charakter die Aufgabe, einen Zugang zum so genannten "Absoluten" zu eröffnen. Kunst wird dabei für die Transzendentalpoeten zur "Ersatzmetaphysik". Dabei hat das Organismusmodell eine bestimmte Aufgabe. Es ist so angelegt, dass es "die gegen die moralischen Ansprüche an die Kunst gerichtete Autonomieästhetik metaphysisch absichert." Insbesondere in der Frühromantik kommt es zu einer innerhalb des Kunstwerks, das heißt vor allem im Roman, deutlich ausgeprägten Selbstthematisierung des künstlerischen Produktionsprozesses. Diese "Selbstthematisierung des Erzählens" hat zur Folge, dass das Kunstwerk, in gleicher Weise wie die fiktionale Welt, über die etwas erzählt wird, als organisch sich herausbildend verstanden werden muss. Am deutlichsten und konsequentesten hat diese Denkfigur allerdings ein Autor umgesetzt, der nur am Rande der romantischen Bewegung, die diesen Gedanken am konsequentesten vertrat, angehörte. Die Rede ist dabei von Jean Paul, in dessen Werk ein "gleichsam sich selbst befruchtender metaphorischer Kosmos entworfen" wird, "in dem sich ein freigelassenes analogisches Denken in einer wahren Vergleichswut ergeht." Die Welt des Erzählers wird dabei zugleich mit der erzählten Welt errichtet. Beide Welten sind durch zahlreiche Fäden unentwirrbar miteinander verbunden.

Natürlich wäre ein "Jahrbuch des Deutschen Idealismus" ohne einen Beitrag über die Kunstphilosophie Hegels nicht vollständig. Angelica Nuzzo hinterfragt Hegels Positionierung des Kunstbegriffs als "first moment of Hegel's theory of absolute spirit". Was bedeutet das konkret für die Philosophie des Geistes? Nuzzo bezieht sich in ihrer Analyse auf die drei Ausgaben der Hegel'schen Enzyklopädie von 1817, 1827 und 1831. Zunächst betrachtet sie jedoch die systematische Rolle der Ästhetik vor Hegel, insbesondere bei Alexander Gottlieb Baumgarten, Immanuel Kant und Johann Gottlieb Herder. Anschließend wird Kunst als "worthy figure" (würdige Gestalt) des Absoluten Geistes bezeichnet. Die Konsequenz der Hegel'schen Ästhetik sei ihr Übergang in die Religion: "Beautiful art [...] has its future in the true religion." (Hegel)

Der vierte Band des "Internationalen Jahrbuchs des Deutschen Idealismus" vereint auf eine sehr anspruchsvolle Weise unterschiedlichste Ansätze hinsichtlich der neueren Theorien über die idealistische Kunstphilosophie. Er bietet ein breites Spektrum an Gedanken über den Stellenwert idealistischer Ästhetik. Jedem Beitrag ist ein Abstract vorangestellt. Der schön gestaltete Einband schafft eine Kontinuität zu den vorangegangenen Jahrgängen. Man darf auf weitere Ausgaben des "Internationalen Jahrbuchs des Deutschen Idealismus" gespannt sein.


Titelbild

Karl P. Ameriks / Jürgen Stolzenberg (Hg.): Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism. Band 4: Ästhetik und die Philosophie der Kunst / Aesthetics and Philosophy of Art.
De Gruyter, Berlin 2006.
364 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 311018253X

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