Männerblues

Rainer Gross legt mit "Grafeneck" einen beachtenswerten Erstling hin

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss? Dieses Prinzip verheißt normalerweise nichts Gutes, vor allem, wenn Bücher nach diesem Motto verfasst sind. Rainer Gross hat allerdings das Risiko nicht gescheut und seinen Protagonisten, Mauser, mit allen Eigenschaften des allein ausreitenden Helden ausgestattet: Mann in den Fünfzigern, Motorrad, Eigenbrötler, Lehrer, Sohn eines Polizisten, am Ort des Geschehens geboren und nie weg gewesen, mit dem seltsamen Hobby, sein Moped einmal im Jahr vollkommen auseinander zu nehmen, die Pistole seines Vaters fleißig zu ölen und in Höhlen herumzukriechen.

Mit dieser letzten Aktivität beginnen unsere Osterferien mit Mauser. Er fährt los, um die Lehmkammerhöhle zu erforschen. Das verheißt nichts Gutes, denn Mauser muss sich durch so enge Gänge quetschen, dass es dem Klaustrophoben eine helle und nachempfindbare Freude ist. Prompt findet Mauser denn auch eine mumifizierte Leiche, die wohl seit fünfzig Jahren dort liegt. Auch wenn er die Leiche am liebsten für sich behalten würde, meldet er sie schließlich doch beim Dorfpolizisten. Und damit beginnt die Geschichte. Es kommt ein fremder Kommissar aus der Stadt, Greving, in den Ort, was bei dörflichen Verbrechen immer ein Startmanko ist, das der arme Kerl immer erst noch überwinden muss. Vertrauen schaffen, hartnäckig sein, sich nicht vom Schweigen der Dörfler beeindrucken lassen, Widersprüche entdecken und die ersten Fäden einer Geschichte aufdecken, die am Ende zu Mörder und Mordtat führen soll.

Auf diese Suche macht sich auch der Eigenbrötler Mauser, kommt er doch bald auf die Idee, dass sein Vater irgendetwas mit der Tat zu tun haben könnte. Der Mann also, zu dem er - nachdem die Nazis seine geistig behinderte Schwester umgebracht haben und seine Mutter Selbstmord beging - das größte Vertrauen hatte. Der Mann also, der immer wusste, was richtig und falsch ist, und dass man sich dazwischen entscheiden muss. Mit dem Toten in der Lehmhöhle aber gerät Mausers fest gefügtes Welt- und Vaterbild ins Rutschen. So sehr, dass aus dem Einzelgänger (trotz Tontöpfe schaffender Freundin) beinahe ein Amokläufer wird.

Das ungleiche Ermittlerpaar Greving und Mauser macht sich getrennt auf die Suche nach der Erklärung, wie der Tote dahin kam, wer Schuld hat und ob es vielleicht Mausers Vater war. Hineingemischt in das fünfzig Jahre nach Kriegsende spielende Dorfstück ist natürlich das deutsche Dilemma vom Mitmachen und sich Verweigern, von Unschuld, Mitschuld und Schuld, die keiner tragen will. Dass es am Ende vor allem darum geht, nicht selber Schuld auf sich zu laden, muss Mauser erst einmal erkennen. Dabei bringt er beinahe einen seiner Dorfnachbarn um. Spätestens das aber ist - Achtung: Katharsis - der Moment der Umkehr, der ihn zu der Haltung führt, die uns Nachgeborenen am ehesten gebührt: Erbarmen.

Eingewoben in dieses Thema des feinen, kleinen Romans, der überraschend trocken und in sich ruhend geschrieben ist, ist eine Diskussion, die mit dem Erfolg der "CSI"-Serien und Pathologen-Ermittler die Krimischreiber umtreibt und zu neuen oder auch bereits erprobten Gegenkonzepten führt: Wenn alles nur noch Sache der Gerichtsmedizin und der kriminaltechnischen Untersuchung ist, verschwinden die Geschichten, die die Tat eigentlich hervorgebracht haben und die es zu finden und zu rekonstruieren gilt. Verschwinden die Geschichten, ändert sich auch das Leben selbst. Wenn die technischen Kollegen von Greving den Fundort des Toten untersuchen, verschwindet das Geheimnisvolle des Ortes, das ihn vor allem für Mauser auszeichnete. Ein bekannter Ort - immerhin im Höhlenkataster verzeichnet - und doch voller Geheimnisse. In diesem Beispiel eine Leiche, von der niemand weiß, wie sie dahin gekommen ist - und es wird auch am Ende keiner wissen, wie das geschehen konnte. Mit einem Mal werden aus den Geschichtensuchern reine (Kriminal-)Techniker, die Kausalitätskette besteht nur noch aus aneinander gereihten Fakten und nicht mehr aus falsch oder richtig handelnden Menschen. Damit verschwindet aber die entscheidende Dimension für das Kriminalgenre insgesamt. Wenn nicht mehr Menschen denken, entscheiden und handeln, sondern nur noch Handlungen aneinander gereiht werden, dann wird auch das Verbrechen zu einer beliebigen Handlung, ohne eigentliche moralische Wertung. Denn nicht das Gesetz, sondern das Rechtsempfinden des Menschen ist dafür entscheidend, ob irgendetwas richtig oder falsch, gut oder böse ist. Damit tritt Gross, vielleicht unbeabsichtigt oder auch unter der Hand, eine Denkkette los, die viel weiter reicht als die Furcht von Krimiautoren, ihnen könnte das Genre abhanden kommen. Insofern ist sein Dorfkrimi ein bemerkenswertes Buch. Mal schaun, was Gross als nächstes schreibt.


Titelbild

Rainer Gross: Grafeneck.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2007.
190 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783865320636

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch