Freunde unter sich

Günther Nicolin editiert den Briefwechsel von Ernst Jünger und Stefan Andres

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten, in denen per Mail und SMS Nachrichten und persönliche Botschaften ausgetauscht werden, die den Ewigkeitswert eines Mausklicks besitzen, muss immer wieder daran erinnert werden, dass vor der medialen Revolution der 90er-Jahre andere Sitten und Bräuche herrschten. Für Schriftsteller war das Schreiben von Briefen und Postkarten an Freunde, Bekannte und Kollegen ein wichtiges Medium des Austauschs, der Information und der Kritik. Nicht zu vernachlässigen ist eine veritable Funktion des Briefeschreibens, die als gängige kulturelle Praxis verstanden werden muss: Briefe sind materielle Zeugnisse von Netzwerkbildungen, die Dichter mit ihnen gewogenen oder literarisch affinen Kollegen herstellen und pflegen.

Ein Autor, der als meisterhafter und unermüdlicher Briefeschreiber gilt, ist Ernst Jünger, von dem inzwischen diverse Briefeditionen im Klett-Cotta Verlag vorliegen. Sowohl die Briefwechsel mit Carl Schmitt, Rudolf Schlichter, Gerhard Nebel, Friedrich Hielscher als auch mit Gottfried Benn sind in hochwertigen und sorgfältig erarbeiteten Editionen veröffentlicht worden und schaffen einerseits ein facettenreiches Bild der literarisch-kulturellen Debatten des 20. Jahrhunderts, andererseits aber auch der Persönlichkeit der Verfasser. 2007 erweitert Günther Nicolin durch die Edition von sechzig erhaltenen Briefen und Karten, die Ernst Jünger und Stefan Andres ausgetauscht haben, den Briefefundus. Am 5. Februar 1948 brachte Ernst Jünger die besondere Qualität der Freundschaft auf den Punkt: "Beim Aufräumen meiner Akten fand ich auch Ihre Briefe, zusammen mit manchen Abschriften der meinen an Sie. Ich sah daraus, dass wir schon lange in Verbindung stehen. Zumeist erloschen meine literarischen Bekanntschaften nach kurzer Zeit - die Existenz eines Autors durch die Jahrzehnte zu führen, scheint nicht einfach zu sein."

Begonnen hat der Kontakt 1937, nachdem Andres mehr als beeindruckt ist von Jüngers "Das Abenteuerliche Herz - Aufzeichnungen bei Tag und Nacht" und ihm einen Brief nach Überlingen, Jüngers damaligem Domizil, schickt. Darin teilt Andres, teils selbstbewusst, teils hoffnungsfroh und unbefangen, dem von ihm bewunderten Älteren mit, dass es ihm um eine besondere Beziehung gehe - "nicht als Schüler, nicht als Verehrer". Jünger geht auf dieses kollegiale Angebot ein, erkennt er in dem Jüngeren doch großes schriftstellerisches Potenzial, denn Andres behandelt Fragen, "die heute den Geist bewegen". Mit dieser Einladung an den Jüngeren, den brieflichen Kontakt zu halten und zu pflegen, entsteht eine literarische Freundschaft, die - mit zeitgeschichtlich verursachten beziehungsweise überlieferungsgeschichtlich bedingten - Unterbrechungen einen Zeitraum von 33 Jahren umfasst. Neben familiären und persönlichen Themen zeigen die erhaltenen Briefe und Karten manch Kritisches zum allgemein politischen und kulturellen Zeitgeschehen, darüber hinaus werden Reisepläne und Reiseberichte ausgetauscht. Einen wichtigen Einblick vermittelt der Schriftverkehr auch in die publizistische Landschaft der Nachkriegszeit, in der sowohl Andres als auch Jünger nach geeigneten und "würdigen" sowie gewinnversprechenden Verlegern Ausschau halten.

Als Stefan Andres 1970 überraschend verstirbt, zieht Jünger in seinem Kondolenzbrief an die Witwe Dorothee Andres, mit der er bereits seit Mitte der 60er-Jahre in brieflichem Kontakt steht, die Bilanz unter eine lange Beziehung: "Wie Sie wissen, zählte Stefan zu meinen alten Freunden; wir haben schon während seiner literarischen Anfänge korrespondiert. Ich bewahre noch viele Briefe von ihm."

Mit dem letztgenannten Fazit zeigt sich die in der aktuellen Brieftheorie übliche Mehrdimensionalität des Briefes, der neuerdings nicht nur als Träger einer reinen Textbotschaft verstanden wird, sondern vielmehr einen genuinen Eigenwert als "medialer Zwitter" besitzt. Mit Briefen wird über die diskursive Funktion hinaus auch ein ästhetisches Bedürfnis befriedigt. Im Falle des angesprochenen Briefwechsels das Bedürfnis nach bewahrender Erinnerung an einen Freund. Damit sich auch heutige Leser von diesem brieflichen "Mehrwert" überzeugen können, bietet die Edition von Nicolin mehrere Faksimiles von Originalbriefen, ferner mehrere sekundäre Belege für die Bedeutung des jeweils anderen Schriftstellers. So sind beispielsweise auch Andres apodiktische Texte "Eine halblaute Frage" und "Die deutschen Schriftsteller vorm Tribunal des PEN Clubs", sowie Jüngers "Tagebuchnotate" mit Bezug zu Stefan Andres dem kleinen Band beigegeben.

Abgerundet wird der positive Leseeindruck durch einen äußerst präzise erarbeiteten Anhang, der umfangreiche, das Verständnis der Briefe erleichternde Anmerkungen enthält, ferner ein interessant zu lesendes Nachwort sowie ein sehr nützliches Personenregister.

Abschließend lässt sich als Kennzeichen der langjährigen Freundschaft zwischen Andres und Jünger etwas Verbindendes bestimmen, das Stefan Andres 1947 - vor dem Hintergrund manch harscher Kritik an Jüngers Verhalten in der Zeit des "Dritten Reiches" - in seinem Pamphlet "Die deutschen Schriftsteller" folgendermaßen beschrieben hat: "Man will uns nicht? Also bleiben wir unter uns! Aber wer darf so sprechen, der an die unlösbare Einheit aller Völker und aller Menschen glaubt?"


Titelbild

Günther Nicolin (Hg.): Ernst Jünger / Stefan Andres: Briefwechsel 1937 - 1972.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007.
184 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783608936643

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