Übercodiert

"Du sollst" revisited: Navid Kermanis erotischer Erzählband unter biblischen Vorzeichen, seine Kritiken und die Uraufführung in Berlin

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2005 erschien der Erzählband "Du sollst" von Navid Kermani, im gleichen Jahr folgte eine zweite Auflage. Im April 2007 wurde nun "Du sollst" unter der Regie von Stefan Otteni in den Berliner Sophiensælen uraufgeführt. Anlass, einen erneuten Blick auf das Buch und seine Kritiken zu werfen.

"Du sollst" besteht aus zehn sehr kurzen Texten, die jeweils eines der zehn biblischen Gebote im Titel tragen. Was der Ammann Verlag auf dem Cover als "Erzählungen" ankündigt, sind Texte über sexuelle Mann-Frau-Begegnungen und deren seelisch-körperlichen Komplikationen. Ausnahme hiervon ist die elfte und letzte Geschichte, die rund sechzig Seiten umfasst und von der sadomasochistisch-schwulen, letztlich fatalen Beziehung eines Religionsprofessors und seines wissenschaftlichen Mitarbeiters berichtet.

Zu lesen sind Szenen, Gespräche, Betrachtungen, innere Monologe, die nicht viel gemein haben mit dem, was sonst Erzählung oder Kurzgeschichte genannt wird. Die Protagonisten sind namen- und geschichtslos, auch ihre Umgebung ist so gut wie unsichtbar, und selbst die Handlung ist bisweilen in einem Maße elliptisch, dass eine Menge Raum bleibt, der mit Vermutungen zu füllen ist.

Der Leser hat auf diese Art mehr mit eigenen Fragen zu tun, als ihm lieb sein kann. Und es gesellen sich weitere Fragen hinzu: In welcher Beziehung stehen die - nennen wir es einmal Geschichten - zu den titelgebenden biblischen Geboten? Warum wird im letzten Text angedeutet, die vorangegangen Episoden könnten Teil der Biografie des Professors sein? Und überhaupt, wie soll die mit Nachdruck hergestellte Beziehung von Religion und Sex verstanden werden? Lässt sich das sagen? Lässt sich das denken?

Von hier aus gerät ein interessantes Phänomen in den Blick, wenn man "Du sollst" in der Rückschau neben seine Kritiken hält. Die klugen, bisweilen tiefsinnigen Gedanken durchaus wohlmeinender Interpreten erscheinen mitunter plausibler und plastischer als das Buch selbst. Damit einher geht eine auffällige Distanz zu Kermanis Erzähltext. Handlung und Charaktere werden kaum berührt, was auch nicht möglich wäre, da diese weitgehend durch Detailbeobachtung und Reflexion ersetzt sind. Die Kritiker verlegen sich daher meist darauf, den Zusammenhang von göttlichen Geboten, Ekstasen, seelisch-körperlichen Abgründen und unstillbarem Verlangen zu rekonstruieren und würdigen, wie es Kermani gelinge, die Bedeutungsräume hinter und zwischen den sexuellen Körpern auszuleuchten.

So heißt es in einem Begleittext der Uraufführung, Kermanis Buch schaffe es, "als einer der wenigen Texte seit Pasolinis 'Teorema', geradezu unmerklich und spielerisch durchzustoßen zu den darunter liegenden Fragen: Gibt es Regeln, Gebote für die körperliche Seite der Liebe? Und könnten diese Regeln dazu taugen, den Körpern das Göttliche wiederzugeben, nach dem sie sich so sehnen? [...] Was wenn uns Gott die Begierde, den Wunsch nach Verschmelzung nur eingepflanzt hat, um uns zu quälen, um uns damit schon die Hölle auf Erden zu bereiten? Was, wenn er [...] nur neidisch ist wie ein eifersüchtiger Nebenbuhler?"

Der Ammann Verlag druckt in den Buchdeckel gar den Satz: "Du sollst ist ein Buch, das auf den Nachttisch aller Liebenden gehört." Marketing ist Marketing, dafür kann der Autor nichts, den Leser belästigt es trotzdem.

Man möchte anmerken, dass ein Bericht über einen tief religiösen Professor, der für den Rest einer sexuellen Stimulierung um die Zehen seines Mitarbeiters winselt, vor versammelter Fachschaft in die Heilige Schrift onaniert, obwohl "Gott für ihn eine Realität wie für andere ein Tisch" ist, und sich schließlich mit antiker Grausamkeit selbst verstümmelt, vor allem erst einmal Ratlosigkeit erzeugt. Ratlosigkeit nicht nur hinsichtlich der Frage, auf welchen Nachttisch dieses Buch gehört.

Geschichten können, so schlicht dies klingen mag, bisweilen in Konflikt mit ihrer Wahrscheinlichkeit beziehungsweise Glaubwürdigkeit geraten. Ein Problem in puncto Bodenhaftung tut sich auf. Fraglich ist, worin Otteni die Bühnentauglichkeit dieses von Beschreibung und Reflexion geprägten Erzählbands Kermanis - beide kennen sich vom Mühlheimer Theater an der Ruhr - erblickt haben mag. Seine Inszenierung jedenfalls kann sich von den Erblasten nicht befreien: sie schwankt zwischen ansehnlichem Kabarett und Ideentheater. Dazwischen fehlt die dramatische Substanz wie dem Prosatext die narrative Substanz fehlt. Die Verteilung des Texts auf vier Schauspieler bringt Tempo, Brechung und Witz, aber einzig Christian Kerepeszki erreicht beim Spiel mit Berichten, Momentaufnahmen und Kommentaren eine Intensität, die beim Zuschauer auch unterhalb des Großhirns Resonanz auslöst.

Das Buch hat zweifellos Stärken. War der Ball der Freund Zinedine Zidanes, wie man bei Real Madrid sagte, so ist die deutsche Sprache eine enge Freundin Kermanis. Kermani ist zu jener "ernsthaften" deutschen Literatur zu rechnen, die es nicht nötig hat, sich als Exot vermarkten zu lassen, erst recht nicht mithilfe von Reizwortpaaren wie Religion und Sex.

Kermani beobachtet fein und präzise das Zusammenspiel von körperlichem Begehren und seelischen Regungen seiner Figuren von Stolz über Hass bis hin zu Erniedrigung und zersetzender Langweile. Vor allem "das Ausmaß ihres Mißverständnisses", die verkorkste Dynamik zwischen Ego, Macht, Erregung, Ekel, verletzten Gefühlen, zwischen Verschwiegenem und vergeblich Angedeutetem, sind brillant nachgezeichnet, humorvoll, ohne Tragik und Qual zu verniedlichen. Das bietet wahrscheinlich den meisten Lesern den einen oder anderen Schreck des Wiedererkennens.

Bis hierhin ist das Buch sehr gelungen. Da es aber mehr sein will, wird ein entscheidendes Etwas zu viel und zu weitschweifig über die in Nahaufnahme sezierten Körper- und Seelengemenge gesprochen. Zudem wird ihnen eine religiös-psychologische "Überkodierung" (A. Kraß) zuteil, die sie nicht vertragen.

Fraglos ist dem Format des Autors zu danken, dass er es vermag, geradezu anachronistisch, Liebe und Intimität eine schicksalshaft-transzendente Dimension zu geben, auch wenn unklar bleibt, was er dabei eigentlich enthüllt: etwas Bewahrenswertes, einen überkommenen, quälenden Ballast oder Gesetze überzeitlicher Gültigkeit für die Begegnung und das Scheitern von Liebenden.

In seinem 2006 bei C. H. Beck erschienenen theoretischen Werk "Der Schrecken Gottes" (siehe literaturkritik.de 3/2007) gelingt es Kermani durchweg überzeugend, über die Lebendigkeit des Metaphysischen, über Liebe, Qual, Existenz und Verzweiflung zu schreiben. Das Prosabändchen "Du sollst" wird von dieser Dimension erdrückt und verwirrt. Es bleibt kopflastig-körperlos, trotz feuchter Geschlechter, herber Gerüche und obszöner Fingerübungen.


Titelbild

Navid Kermani: Du sollst. Erzählungen.
Ammann Verlag, Zürich 2006.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3250600792
ISBN-13: 9783250600794

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch