Zwischen Dichtung und Wahrheit

Rada Billers Roman "Lina und die anderen" findet das Gleichgewicht nicht

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In mehreren Ländern spielt Rada Billers zweiter Roman, und einige Jahrzehnte werden in dieser breit angelegten Familiengeschichte durchschritten. War bereits Billers erstes Buch "Melonenschale" (2003) autobiografisch gefärbt, so greift auch "Lina und die anderen" wieder auf die Lebenserfahrungen der Autorin zurück.

Rada Biller wurde 1930 in Baku geboren, das seit 1918 Hauptstadt der zunächst für kurze Zeit unabhängigen Aserbaidschanischen Demokratischen Republik gewesen war, bis diese 1920 von den Bolschewiken erobert und in die Sowjetunion eingegliedert wurde. Später siedelte die Familie nach Moskau über; die Kriegsjahre verbrachte sie in Baschkirien und in Stalingrad. Biller studierte in Moskau Geografie und emigrierte in den 1950er-Jahren nach Prag. Mit ihrer Familie zog sie 1970 weiter nach Hamburg. Rada Biller ist Maxim Billers Mutter.

Vieles von dieser ereignisreichen Biografie schlägt sich in "Lina und die anderen" nieder. Lina ist die Hauptfigur des Romans, um die sich die Geschichten der "anderen" ranken: Die "anderen", das sind Linas Verwandte, aber auch Eingeheiratete und Freunde. Der Roman setzt mit dem Leben der Großeltern Linas ein und endet nach Linas Tod. Zunächst studiert Lina in Baku Medizin, versucht sich dann in schwierigeren Zeiten als illegale Händlerin und später als Sekretärin. Ähnlich brüchig erweist sich ihre Biografie auch in emotionaler und in topografischer Hinsicht: Männer und Orte (Baku, Moskau, Israel) wechseln sich ab. Daran dürften nicht allein die politischen Wirren, sondern auch eine gewisse Wankelmütigkeit Linas schuld sein. Ihrer Cousine Dara kommt am ehesten noch die Rolle einer treuen Freundin zu; mit ihr bleibt Lina - auch über mehrere Zeitzonen hinweg - immer in Kontakt. Der Umgang mit Lina erweist sich aber für die ihr nahe Stehenden als schwierig. Linas Schicksal vermag den Leser zwar durchaus zu berühren, etwa weil die Protagonistin über lange Zeit von ihrer Tochter getrennt leben muss. Doch durchkreuzt die Autorin die Annäherung des Lesers an Lina gleich selbst wieder, indem sie mit ihr eine problematische, doch gleichzeitig wenig plastische Figur schafft, in die sich der Leser kaum einfühlen kann.

In handwerklicher Hinsicht weist der Roman einige Mängel auf. Zunächst ist die bisweilen sehr plakative, undifferenzierte Sprache zu beklagen, deren es an Ausdrucksmöglichkeiten mangelt. Die Figuren des Romans haben bei Rada Biller fast immer eine Haar- und Augenfarbe sowie eine Körpergröße. Menschen werden durch Bezeichnungen wie "hübsch" oder "gutmütig" oft nur oberflächlich charakterisiert, weswegen viele von ihnen als Figuren blass bleiben. Man kann hier freilich die Frage stellen, ob die Autorin in ihrem Roman bewusst eine kunstvoll naive, einfache Sprache inszeniert. Entspräche die Erzählperspektive der Sicht eines Kindes, würde dies eine solche Entscheidung vielleicht genügend legitimieren. Dieser Fall ist hier jedoch nicht gegeben. Auch eine andere denkbare Erklärung greift nicht: In der Literatur findet sich - und dies gerade auch in jüdischen Erzählungen - bisweilen ein Legenden- oder Märchenton. Joseph Roth stimmt ihn beispielsweise in seinem "Hiob" an. Mittels der Sprache wird das Geschehen in diesem Fall über die Schilderung eines Einzelschicksals hinausgehoben, in gewisser Weise "sakralisiert". Das gezeigte Schicksal kann dann als beispiel- und gleichnishaft gelesen werden. In "Lina und die anderen" verhindern allerdings dann gerade die autobiografischen, auf Faktendarstellung hin orientierten Tendenzen des Romans eine solche Möglichkeit.

Billers Sprache charakterisiert sich leider allzu oft durch stilistisch verunglückte Formulierungen ("Diese Treffen machten ihn sehr froh"), durch peinlich anmutende Gemeinplätze ("Männer gehen oft zu anderen Frauen und betrügen sogar ihre geliebte Ehefrau, die nach der Mutter ihnen am nächsten stehende Frau") und Kommentare der Erzählinstanz, die bisweilen einen unfreiwilligen Humor entfalten ("Lina liebte Dara beinahe wie eine Tochter und nicht wie eine Cousine"). Das russische Original des Romans ist offensichtlich unveröffentlicht; eine Suche im russischsprachigen Internet ergibt keinen einzigen Verweis auf "Rada Biller". Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass die sprachlichen Mängel der erfahrenen Übersetzerin Beate Rausch anzulasten sind.

Eine gewisse Schwäche offenbart der Roman auch im Hinblick auf die dargestellte Welt. Im "orientalischen Provinznest" Baku, das zugleich ländliche wie auch internationale Züge trägt, läge eigentlich genügend erzählerisches Potential verborgen, das jedoch von der Autorin nur im Ansatz genutzt wird. Zwar wird das Zusammenleben der Ethnien thematisiert: Es wird an die Bakuer Mischehen erinnert, aber auch an die Friedhöfe der verschiedenen Glaubensrichtungen, die nebeneinander liegen. Vergleicht man Billers Roman jedoch beispielsweise mit Ljudmila Ulitzkajas "Medea und ihre Kinder", so liegen die qualitativen Unterschiede auf der Hand. Wo Ulitzkaja in farbigen Schilderungen anhand eines über das ganze Land verstreuten Familienclans die Sowjetunion als Vielvölkerstaat inszeniert - wobei man jeweils im Sommer auf der Krim zusammenkommt -, da bleiben Billers Bilder aus Baku schwarz-weiß und matt. Immerhin gelingt der Autorin aber ein eindrücklicher Bericht darüber, wie mit dem Ende der sowjetischen Epoche die Stimmung in Baku kippt: Die Pogrome an Armeniern werden in beklemmenden Worten geschildert.

Problematisch ist in Billers Roman schließlich auch die Erzählhaltung, die Position, welche die Autorin ihrer Hauptfigur gegenüber einnimmt. Zwar wird Lina durchaus von Anfang an als problematischer Charakter geschildert: "Lina terrorisierte alle, mit denen sie zusammenlebte - sie konnte nur entweder vergöttern oder hassen, und Liebe verwandelte sich bei ihr in Terror". Auch hier fallen die Zuschreibungen sehr plakativ aus: Die Bewertung von Linas Person und Handeln durch die Autorin wechselt bisweilen allzu sprunghaft von Sympathie zu Abneigung und zurück. Dies führt zu einer Typisierung, die es verhindert, dass Lina einen differenzierten Charakter entwickeln könnte.

Dass der Roman vor allem von Frauen handelt, ist ein Gewinn für ihn. Es sind denn in Linas Welt auch vorwiegend die Frauen, die aktiv sind, das Einkommen sichern und das Familienleben organisieren. Hier erlaubt der Roman - vielleicht sogar ohne dies besonders zu beabsichtigen - immerhin interessante soziologische Einblicke in sowjetisches und postsowjetisches Familienleben, in Beziehungen und den Umgang der Menschen miteinander.

Es gelingt Biller aber eben nicht, zwischen dem Faktografischen und dem Literarischen ein Gleichgewicht herzustellen, zwischen dem Tatsachenbericht und der ästhetischen Überformung des Materials zu vermitteln. Beide Prinzipien kommen sich in diesem Text - der gemäß dem Titelblatt ein "Roman" sein will - leider in die Quere.


Titelbild

Rada Biller: Lina und die Anderen. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Beate Rausch.
Berlin Verlag, Berlin 2007.
318 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827007032

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch