Seltsames aus dem Stifterland

Bernhard Setzweins "Ein seltsames Land" beschreibt Bayern und Böhmen - wie es ist und wie es sein könnte

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1960 in München geborene Bernhard Setzwein, der inzwischen auf ein mehr als beachtliches, mehrfach ausgezeichnetes literarisches Werk zurückblicken kann, lebt seit fast zwei Jahrzehnten an der bayerisch-böhmischen Grenze. In zahlreichen Essays und Rundfunkbeiträgen, aber auch in Erzählungen und Romanen hat er von dieser Grenze berichtet, und sie seit 1989 immer wieder überschritten. Nicht nur literarisch, wofür sein erfolgreicher Roman "Die grüne Jungfer" (2003) stehen mag, sondern auch als Wanderer, der im Sommer 2006 zusammen mit seinen Schriftstellerkollegen Harald Grill und Friedrich Brandl entlang der "Goldenen Straße" von Pilsen nach Amberg unterwegs war. Woraus sicherlich noch manches folgen wird. Ein rundherum erfreuliches literarisches Werk liegt bereits vor. Sein Titel ist Programm: "Ein seltsames Land".

Der Romanheld mit dem sprechenden Namen Lober ist eigentlich ein ganz normaler Staubsauger-Vertreter, der durch die Neubausiedlungen der Ortschaften des Bayerischen Waldes zieht, in Dorfgasthäusern nächtigt und sich nicht entscheiden kann, ob er mit seiner Freundin Franzka zusammenziehen soll oder doch besser nicht. Eine völlig durchschnittliche Freistaats-Existenz von heute - der alltagsplausible Beginn der Geschichte lässt nirgendwo vermuten, dass dieser Lober ganz allmählich die Sphäre des Gewohnten verlassen wird. Der Leser freut sich zunächst einmal über die äußerst köstlichen kultur- und sozialkritischen Beobachtungen, die der Held inmitten all der kitschübersäten Vorgärten und 12-Zimmer-Villen anstellt, zu denen ihn sein Einsatzplan führt - und nebenbei dankt er der über Lobers Handy stets präsenten Franzka, dass sie ihm zur Verkürzung seiner Autofahrten ein Hörbuch mit Texten von Adalbert Stifter mitgegeben hat.

So mancher Stifter-Hörbuch-Satz verleiht Lober quasi Flügel und verdrängt ein wenig die flotten Melodien seines Lieblingssängers Tom Petty, der nur immer "I'm ready to fly / but I ain't got wings" gesungen hatte. Allein die oft bitterbösen satirischen Passagen der ersten 50 Seiten - inklusive des mit allen Vorurteilen gegenüber dem Dichter geschickt jonglierenden und wahrlich zum Brüllen komisch geschilderten Kaufs eines Stifter-Bandes - lohnen die Lektüre des Buches. Und irgendwie wirken die Sätze Stifters auf den braven Vertreter: "Lober wurde sich selbst, wenn auch nur für einen ganz kurzen Augenblick, unheimlich." Denn er sieht auch sehr genau, über seine höchstpersönlichen Empfindungen hinaus, was so alles passiert in diesem durchaus nicht idyllischen Bayerischen Wald von heute, wo sich eben auch jugendliche Bombenbastler selbst in die Luft jagen und das menschliche Elend, an den Stammtischen oft kleingeredet und weggesoffen, an fast jeder Weggabelung lauert.

Kurzum: Lober kommt sich und seinen beruflichen Pflichten langsam abhanden, und wie das geschieht und wohin es führt, verfolgt man mit wachsender Spannung - zumal man es mit einem Autor zu tun hat, der die Schimpftiraden eines Thomas Bernhard ebenso studiert hat wie die sanften Prosanotizen des späteren Peter Handke, die bekanntlich eine gewisse Nähe zu dessen explizitem Vorbild Stifter aufweisen. So gelangt der Leser schließlich ans Weltende, genauer gesagt: ins "Gasthaus zum Ende der Welt", das sich ganz hinten im Wald in der Nähe eines vom Unternehmer Multerer aufgegebenen Steinbruchs befindet.

Der Multerer, den Setzwein-Leser schon aus der "Grünen Jungfer" kennen, fährt heutzutage einfach besser mit Import-Granit aus China, und den arbeitslosen Steinbrechern bleibt nur noch ihr Austragsbier. So läuft das heute. Dort, wo sich die Wald-Originale bei einem urigen Wirtspaar ein Stelldichein geben, ist Lober kein ganz Unbekannter. Dieses Gasthaus, dessen skurriles Innenleben der Autor ähnlich intensiv schildert wie einst die Wirtsstube in der "Grünen Jungfer", wird für den im Grunde schon über wings verfügenden Protagonisten zu einer Art Sprungbrett in eine andere Welt.

Denn immer mehr merkwürdige Gestalten tauchen in seiner Nähe auf, ein wie aus dem 19. Jahrhundert gefallener Herr mit Zylinder und einem Spitz beispielsweise oder ein Eremit, über dessen Geschichte ein früherer Lehrer ebenso Auskunft gibt wie über den lokalen Brauch des "Bertl-Suchens". Bertl? Da war doch was? "Dann ging Lober los. Into the great wide open. " So endet der erste Teil der in einem angemessen wohltemperierten Erzählduktus gehaltenen und auch deshalb leserfreundlichen Geschichte.

Eine spannend erzählte Aussteiger-Story hat man bis hierhin gelesen, eingebettet in eine Art Sittenbild des Bayerischen Waldes im Sinne eines glaubhaften, soziologisch grundierten Porträts einer Gesellschaft und einer Landschaft zwischen Globalisierung und heimlich-unheimlicher Stifter-Welt. Wohin aber steigt dieser Lober aus? Wo liegt sein "great wide open"? Er weiß nur, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann. Sie aber, die geheimnisvolle, aus der Fernseh- und Plastikwelt von heute längst ausgestiegene Bildhauerin, die sich im alten Steinbruch zwischen verrosteten Maschinen und selbstgebackenem Brot mehr oder minder häuslich niedergelassen hat, weiß durchaus, wo hier das Meer liegt - ein paar Kilometer weiter natürlich. Und nach der behutsamen Annäherung dieser beiden existenziell Unbehausten ist es so weit: Der uralte Benz springt tatsächlich an, und Lober bricht mit der Bacherin, wie sie sich nennt, auf ins Land Böhmen - ohne Rückversicherung, wie sich später herausstellt. Die absolut notwendigen Relikte des scheinbar so ganz realen Lebens, Bar- oder Plastikgeld zum Beispiel, bleiben in Lobers am Ende der Welt geparktem Auto zurück, und es beginnt eine phantastische, traumdurchzogene, Raum und Zeit für gering achtende Reise, deren eigentliches Ziel das Unterwegssein ist, in der Landschaft, im Kopf, in Gesellschaft diverser "Narrischer", die allerdings weit weniger verrückt und ihrer Bestimmung im Dasein gewiss näher sind als manche Normalsterblichen.

Bevor hier jemand "Klischee, Klischee" rufen und von unkritischer Verklärung des ja keineswegs nur waldeinsamen und ursprünglichen Böhmen sprechen kann, sei deutlich gesagt: Setzwein, dessen ganze Sympathie dem "Entschleunigungsland" hinter Osser und Dreisessel gilt, glorifiziert oder mystifiziert Böhmen nicht. Schon die erste Station auf Lobers skurriler Reise, Adalbert Stifters Geburtsdorf am Moldaustausee, ist ein zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert schrecklich zerrissener Ort, an dem eine Gruppe perspektivlos-gewaltbereiter Jugendlicher eine Art Überfall versucht und seinen inzwischen heißgeliebten Stifter-Band beschädigt. Und in dem, plausibel und doch kaum zu glauben, Action-Szenen für einen neuen James-Bond-Film gedreht werden, mit gigantischen Feuerwerken, Helikoptern und Landrovern auf Irrsinnsfahrten mitten durch das einst so stille Oberplan, dem die von Hollywood gesandten Bulldozer fast sein Stifterhaus plattgemacht hätten.

Nichts wie weg in eine langsamere Welt! Fahren und schauen, "stundenlang, tagelang, wochenlang"! Irgendwann steigt ein etwas mürrischer Mann mit Zylinderhut und Spitz ins Auto, ein ungesund aussehender Herr, ein Hofrat von nicht unerheblicher Leibesfülle, der auch bald enorme Mengen von Forellen und Enten verschlingen und sie mit Riesenschlucken aus dem Weißweinglas bekömmlicher machen wird - Stifter selbst? Hier geht, wie der Leser unschwer feststellen kann, Setzweins schöner Roman ganz in Traumsequenzen über und wird zur Phantasmagorie - Böhmen liegt nicht nur am Meer, sondern sogar auf dessen Grund, "auf dem Meeresboden der Tethyssee". Man gerät - Böhmen-Experten kennen wahrscheinlich die realen Örtlichkeiten - in "die Stadt mit der Knochenkapelle" und zur "Kuppe mit dem geköpften Heiligen", ehe "die Stadt mit dem Irren" erreicht ist. Dort, in Hlavanice, haust der genial verlotterte, greise und alkoholsüchtige Fotograf Bohuš alias Bohumil Cerny, dessen Kunst, wenn es denn eine ist, inzwischen Höchstpreise auf dem Weltmarkt erzielt und der deshalb die Geier anlockt.

Wie Lober und die Bacherin mit dem viel Geld witternden Manager des Alten umgehen, wie sie diese lächerliche Figur und seinen Bodyguard austricksen und den rührend hilflosen Künstler in ihr Auto verfrachten, das ist wiederum eine Episode, die abermals allein schon die Lektüre dieses immer wieder auch sehr witzigen Werkes lohnt. Wo das alles hinführt? Nun, am Ende ist das alte Auto der Bacherin weg und der Böhmen-Traum aus. Es gibt, mehr sei nicht verraten, noch eine Menge Ärger und schließlich ein schäbiges Wirtshaus an der Grenze, und am Ende steht die Philippika eines Einheimischen - eine Schimpftirade, die zu ergründen sucht, warum die bayerisch-böhmische und überhaupt die westöstliche Wirklichkeit heute so ist wie sie ist. Und die Menschen derart ohnmächtig macht wie am Ende auch den Lober.

Dass das alles nicht so sein müsste, zeigt unter anderem dieses bemerkenswerte Prosawerk von Bernhard Setzwein. Gerade weil das Ende seiner Geschichte eher nachdenklich als froh macht. Der Literatur-Enthusiast wird noch zahlreiche hier nicht genannte Zitate und Anleihen aus der Literaturgeschichte entdecken. Der Rezensent indes muss kein notorischer Lober sein, um dieses literatur-, traum- und phantasiedurchwirkte, realistische und zugleich romantische und nicht zuletzt Adalbert Stifters Geist kongenial in die Gegenwart hebende Buch wärmstens zu empfehlen.


Titelbild

Bernhard Setzwein: Ein seltsames Land.
Lichtung Verlag, Viechtach 2007.
256 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783929517453

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