Recht, Gesetz und anderes Unrecht

Susanne Opfermanns Sammelband "Unrechtserfahrungen" untersucht die Geschlechtergerechtigkeit in Gesellschaft und Recht sowie ihre Literarisierung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Terre des Femmes, die größte Frauenrechtsorganisation im deutschsprachigen Raum, führt im zweijährigen Turnus Kampagnen zu den übelsten Frauenrechtsverletzungen durch. Die aktuelle gilt der häuslichen Gewalt, oder wie Sibylla Flügge genauer formuliert, "der sogenannten 'häuslichen Gewalt'". "Sogenannt", weil der Topos verschleiert, dass es sich in aller Regel um "Gewalt gegen Frauen durch ihre Partner" handelt. Wie Flügge überzeugend darlegt, ist 'häusliche Gewalt' nicht einfach eine von vielen Gewalt- und Unrechtserfahrungen, die Frauen erleiden. Vielmehr bündeln sie sich in ihr "wie in einem Prisma".

Nachlesen kann man ihre Argumentation in einem von Susanne Opfermann herausgegebenen Sammelband zu Unrechtserfahrungen von Frauen in Gesellschaft und Recht sowie deren Darstellung in der Literatur. Zu ihm hat Flügge einen Beitrag über die Entwicklung des deutschen Eherechts vom "Züchtigungsrecht" des Ehemannes bis zum "Gewaltschutzgesetz" beigesteuert. Die Texte des auf eine im Wintersemester 2004/05 im Cornelia-Goethe-Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse (CGC) durchgeführte interdisziplinäre Kolloquiumsreihe zurückgehenden Bandes beleuchten das Thema aus den Perspektiven unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen wie etwa der Soziologie, der Rechtswissenschaft und der Kulturwissenschaft.

In ihrem sehr erhellenden Beitrag zeichnet Flügge die Entwicklung des bundesrepublikanischen Eherechts konzis nach. Insbesondere für jüngere LeserInnen dürfte kaum fassbar sein, was hierzulande noch vor nicht allzu langer Zeit so alles Recht und Gesetz war, worunter also ihre Mütter und Großmütter noch zu leiden hatten und wogegen sich viele von ihnen (und wohl auch der eine oder andere Vater und Großvater) erfolgreich zur Wehr setzten. So besagte ein wahrhaft empörendes Ehe- und Scheidungsrecht beispielsweise, dass eine von ihrem Mann misshandelte Frau sich nicht scheiden lassen konnte, wenn sie die Misshandlungen durch "Sticheleien" 'provoziert' hatte. Als Scheidungsgrund galt hingegen etwa, über "Intimitäten aus dem Eheleben" zu sprechen. Vertraute eine geschlagene Frau ihr Martyrium also einer Freundin an, konnte sie damit rechnen, schuldig geschieden zu werden, falls der Mann das wollte. Kein Wunder also, dass so lange in Abrede gestellt wurde, wie weit 'häusliche Gewalt' verbreitet ist. Und wenn man nun noch in Betracht zieht, dass eine verheiratete Frau nur mit dem Einverständnis ihres Mannes empfängnisverhütende Mittel einsetzen durfte, versteht man, warum sich in den 1970er-Jahren so viele Frauen für die Streichung des § 218 einsetzten.

Die genannten und alle anderen Scheidungsgründe galten als hinfällig, wenn sie 'verziehen' worden waren. Als verziehen wiederum galten sie durch den "Vollzug des ehelichen Verkehrs". Diesen über sich ergehen zu lassen, gehörte zu den Pflichten einer verheirateten Frau. Nach einem höchstrichterlichen Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1966 musste sie sogar damit rechnen, auf Antrag ihres Mannes schuldig geschieden zu werden, wenn sie sich auch nur einen gewissen "Widerwillen" gegen den Geschlechtsverkehr mit ihm anmerken ließ. Nicht der Vergewaltiger wurde also bestraft, sondern die Vergewaltigte. Ganz wie heute noch in einigen islamisch geprägten Ländern. Nur, dass die deutschen Frauen nicht von Steinigung bedroht waren. Doch immerhin drohte ihnen als schuldig Geschiedenen unter anderem der Entzug der Kinder und keinerlei Aussicht auf Unterhaltszahlungen, was sie in aller Regel existentiell gefährdete, denn die wenigsten hatten eine Ausbildung oder Berufserfahrung.

Wie Flügge bemerkt, lassen sich unter diesem Aspekt "so unterschiedliche Ziele wie verbesserter Kündigungsschutz für Teilzeitkräfte, Abschaffung des Steuersplittings, Freigabe der Abtreibung, eigenständige Alterssicherung, bedarfsgerechte Kinderbetreuung, Strafrechtsreformen, eine Stärkung der Rechtsposition von Nebenklägerinnen und vieles andere in den Kontext einer Politik zum Schutz von Frauen gegen Gewalt stellen".

Nun hat sich in den 1990er-Jahren im Ehe- und Scheidungsrecht zwar einiges zum immerhin etwas besseren gewandelt. Doch beileibe nicht alles. So manches hat sich gar verschlechtert. Schuld daran ist die Kindschaftsrechtsreform von 1998, mit der die Rechte der Väter zu Lasten der Mütter und - entgegen der Intention wohl oft genug auch zu Lasten der Kinder - gestärkt wurden. Es besagt, dass die Väter "im Regelfall" auch nach einer Scheidung am "Sorgerecht" für die gemeinsamen Kinder beteiligt bleiben, "und zwar weitgehend unabhängig davon, inwieweit sie dazu bereit und in der Lage sind, tatsächlich Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen". Damit einhergehend wurde ihr "Umgangsrecht" mit dem Kind derart ausgedehnt, dass geschiedenen Müttern heutzutage kaum noch eine Möglichkeit bleibt, sich (und die gemeinsamen Kinder) vor dem Mann zu schützen. Denn das neue Recht fordert, beide Elternteile sollten nach Möglichkeit immer mit den Kindern in Kontakt bleiben. So können sich Frauen aufgrund des liberaleren Scheidungsrechtes heute zwar jederzeit von ihren Männern trennen. "Sobald sie aber ein Kind haben, werden sie buchstäblich auf Gedeih und Verderb dazu verpflichtet, mit dem Vater des Kindes in Kontakt zu treten bzw. diesen Kontakt aufrecht zu erhalten, sofern und soweit dieser das will." Keine Rolle spielt hingegen nicht nur, ob die Mutter das möchte. Auch das Kind wird nicht gefragt. Mit anderen Worten: Männer, die ihre Frauen bedrohen und verprügeln oder sich überhaupt als Haustyrannen hervorgetan haben, werden somit alle Mittel in die Hand gegeben, ihre ehemaligen Frauen (und ihre gemeinsamen Kinder) nach der Scheidung weiterhin zu terrorisieren.

Nicht weniger empörend als die in Flügges Beitrag dargelegte Eherechtslage ist das von Brita Rang geschilderte Schicksal der jüdischen Lehrerin Elisabeth Cahn, deren Unrechtserfahrungen von der Weimarer Republik über die Nazi-Diktatur bis hinein in die Bundesrepublik reichen. Dabei macht Rang deutlich, dass die Diskriminierungen der von den Nazis zunächst aus dem Schuldienst und sodann aus dem Land vertriebenen Jüdin, der vom Nachfolgestaat der Nazidiktatur jegliche Entschädigung mit der Begründung verweigert wurde, dass nach den "damals allgemein gültigen Bestimmungen" verfahren worden sei, "einen gleichsam strukturellen Platz haben". Denn auf der gesellschaftlichen Makroebene resultieren sie aus den Geschlechterverhältnissen ebenso wie aus den politischen, rassistischen und ökonomischen Entwicklungen während der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Hinzu tritt auf der Mikroebene die Missgunst, die Kleinlichkeit und die Skrupellosigkeit der Individuen, mit denen Cahn zu tun hatte. All dies zeigt Rang eindrücklich, wobei ihr als Quellenmaterial nur Cahns Personalakte, "de[r] amtliche Beleg ihres beruflichen Lebens als Lehrerin in Frankfurt am Main zwischen 1914 und 1933", zur Verfügung stand.

Ebenso lesenswert wie die Beiträge Flügges und Rangs sind Ute Sacksofskys Aufsatz über "Diskriminierung und Gleichheit aus verfassungsrechtlicher Perspektive" und Ulla Wischermanns Abriss der Sexualitätsdiskurse von nunmehr rund 100 Jahren Frauenbewegung, der die Autorin zu der These führt, dass die "Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Autonomie eines, wenn nicht das wichtigste Ereignis und Ergebnis des 'Jahrhunderts des Feminismus'" war.

Anders als die anderen Autorinnen geht Ute Gerhard nicht bestimmten Unrechtserfahrungen nach, sondern fragt ganz grundsätzlich, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Betroffenen "Unrecht nicht als Schicksal, Unabänderlichkeit oder gar als Normalität" hinnehmen, sondern überhaupt als Rechtsverletzung erkennen können. Insbesondere interessiert sie, "warum speziell die Unrechtserfahrungen von Frauen so schwer zu thematisieren und öffentlich zur Sprache zu bringen sind". Als eine der "Hauptbarrieren gegen die Sicherung der Menschenrechte von Frauen" macht sie die "systematische Trennung in öffentliches und privates Recht" aus. Das alles legt sie nachvollziehbar dar. Eine gewisse, wohl eher unbewusste Geringschätzung von Literatur kommt allerdings darin zum Ausdruck, dass Gerhard mit Bertolt Brechts "Geschichten vom Herrn Keuner" zwar auch ein literarisches Werk heranzieht, sie aber gerade dieses in der Literaturliste nicht aufführt.

Ganz der Literarisierung und Narrativierung von Unrechtserfahrungen widmen sich Lisette Gebhardt ("Unrechtserfahrungen als Thema japanischer Gegenwartsliteratur") und Susanne Opfermann, die anhand dreier "Fallstudien" (Hisaye Yamamoto, Alice Walker, Don DeLillo) die literarische Inszenierung von Diskriminierung und Geschlechterverhältnissen erhellt. Wie sie in einem der instruktivsten Beiträge zu diesem insgesamt sehr erkenntnisstiftenden Band zeigt, ist es gerade die Fiktionalität, "die der Literatur bei der Verhandlung von Unrechtserfahrungen besondere Möglichkeiten eröffnet". Nicht nur kann sie die "Wirkungsweise eines institutionalisierten gesellschaftlichen Unrechtssystems ebenso wie die Effekte konfligierender Unrechtserfahrungen bis hin zu ihren Entstehungsbedingungen und Voraussetzungen ästhetisch erfahrbar machen". Wichtiger ist noch, dass ein fiktionaler Text eigene und fremde Erinnerungen verbinden und somit die "Einzelerfahrung als Teil eines Gesamtsystems" veranschaulichen kann. Denn in der Literatur ist es nicht wichtig, "ob eine bestimmte Person etwas wirklich und persönlich erlebt hat". Durch diesen "Verzicht auf einen faktischen Wahrheitsanspruch" ermöglichen fiktionale Texte nicht nur Erkenntnis, sondern gewinnen eine "höhere Wahrheit".


Titelbild

Susanne Opfermann (Hg.): Unrechtserfahrungen. Geschlechtergerechtigkeit in Gesellschaft, Recht und Literatur.
Ulrike Helmer Verlag, Taunusstein im Taunus 2007.
180 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783897412262

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