Drehkreuz Mitteleuropa

Peter Demetz, geboren 1922 in Prag, umfassend gebildet und weltoffenen - wie seine böhmischen Essays

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Demetz ist bereits mit einer Reihe von Veröffentlichungen über Böhmen und Mähren hervorgetreten, die allesamt geistreiche Wegmarken darstellten. Auch die vorliegende Sammlung von zehn Essays und Einwürfen lösen diesen vorgegebenen Anspruch wieder ein.

Demetz, der als junger Student auch eine Gestapohaft über sich ergehen lassen musste, war einigermaßen bewusst in der ersten Republik des Tomáš G. Masaryk aufgewachsen. Seine familiäre Herkunft spiegelte in der sprachlichen wie ethnischen Vielseitigkeit die Spezifik des ostmitteleuropäischen Typus. Als Sohn einer deutschen Mutter und eines in Prag geborenen südtiroler Vaters wuchs Demetz in einem Milieu auf, in dem ladinisch, deutsch und tschechisch gesprochen wurde. Die Mutter, als Jüdin nach Theresienstadt deportiert, überlebte das Lager nicht. 1949, kurz nach der Machtübernahme der Kommunisten, hatte der junge Peter Demetz seine böhmische Heimat in einer abenteuerlichen Flucht verlassen. Im Westen wurde er ein bedeutender Literaturwissenschaftler. Zuletzt wirkte er in New Haven, Conneticut, als Professor an der Yale-Universität.

Peter Demetz spart keinen Namen aus, der im böhmisch-mährischen Zusammenhang fallen wird - und dennoch vermag er in einer ungewöhnlich anderen Art und Weise über Kafka, den Golem, Schwejk oder Rainer Maria Rilke zu berichten. Dabei zeichnet sich die Reife seiner Essays dadurch aus, dass er ohne Polemiken gegen inflationär missbrauchte Namen und Legenden wie etwa das im 19. Jahrhundert künstlich aufgebauschte "Praga mystica" auskommt, da er aus tieferen Brunnen frisches Wasser zu schöpfen vermag.

Dabei liegt die spannende Frische nicht allein an neuen, ungewöhnlichen Verknüpfungen, sondern auch an der gelungenen erzählerischen Perspektive. Da ist ein Bericht "Über Johannes Urzidil", in welchem Demetz mit schalkhaftem Augenzwinkern seine ganz persönlichen Erinnerungen an den deutsch-böhmischen Schriftsteller schildert. Und zwar sowohl in den 1930er-Jahren, als sich Urzidil "sehr für das Theater, nicht zuletzt in Gestalt meiner Tante Fritta" interessierte, als auch in späteren Jahren nach dem Krieg, als Peter Demetz den Dichter, der nach 1945 nicht mehr nach Europa zurückkehren wollte, in den USA auf Long Island besuchte: "Johannes war sehr stolz darauf, daß man von seiner Wohnung auf das Meer sehen konnte, genauer gesagt, nur von der kleinen Küche aus, und da mußte man den Kopf in einen abenteuerlichen Winkel drehen, ehe man ganz in der Ferne den Silberstreifen sah". Der Besucher Demetz aber konnte diese Sehnsucht gut verstehen - er wußte, dass Böhmen am Meer liegt...

Ein weiteres Mal ergreift Peter Demetz Partei für König Premysl Ottokar II, der 1278 in der Nähe von Wien auf dem Marchfeld gefallen war. Sein Lebenswerk ist zu Unrecht vergessen - und Demetz unterstellt dem tschechischen Erinnerungsvermögen eine Vorliebe für jene "symbolische Figuren, von denen man zu sagen vermöchte, daß sie, in der böhmischen Geschichte, ganz und gar tschechisch waren und deshalb eher geeignet, Selbstdefinitionen zu fördern".

Seine enorme Belesenheit ermöglicht Peter Demetz abenteuerliche Streifzüge durch die böhmischen Jahrhunderte - Religion und Mystik, Philosophie und Politik und nicht zuletzt die Literaturen kommen zu Wort. "Böhmen böhmisch" stellt ein Lesebuch dar, das den sympathischen Versuch unternimmt, die Verzwickheiten des doppelten böhmischen Bodens zu erläutern. Peter Demetz scheut sich nicht vor persönlichen Bekenntnissen, die sein angereichertes Wissen über die Verhältnisse beleben. Nationale Mythenbildungen werden in "Bernard Bolzano - Sprachtheorie und Nationalitätenkonflikt" ebenso kritisch unter die Lupe genommen, wie im Beitrag "Die Beneš-Dekrete - Noch einmal" die unmittelbare Vergangenheit, imprägniert von den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.

Peter Demetz ist ein Gelehrter, ein Zeitzeuge und ein Überlebender. Den Kern seiner Betrachtungen bildet eindeutig das In-, Mit- und Gegeneinander von Deutschen, Juden und Tschechen in Böhmen - so wie er es in seiner Kindheit erleben durfte. Seine Anmerkungen im Beitrag "Nation als Frage - Konfigurationen" enden mit dem Hinweis auf den ersten Teil der tschechoslowakischen Nationalhymne "Wo ist mein Heim, mein Vaterland?": "Es ist, soweit ich weiß, die einzige Nationalhymne, die mit einem Fragezeichen beginnt".


Titelbild

Peter Demetz: Böhmen böhmisch.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006.
173 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3552053735
ISBN-13: 9783552053731

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