Wolf unter Wölfen

Günter Caspars Fallada-Lesebuch aus dem Nachlass

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Wolf nicht bald auftaucht, dann kann der namenlose Morphinist seine Tagesdosis von achtzig (!) Spritzen à fünf Kubikzentimetern (bei dreiprozentiger Lösung) in den Wind schreiben, und auch wenn er bald auftaucht, ist die Versorgung keineswegs gesichert: "Kommt Wolf noch nicht? Wie lange sie brauchen, dies bißchen Stoff anzufertigen! Aber ich will nicht klagen, es ist ein gutes Zeichen, daß er nicht kommt, so fertigen sie doch die Medizin an. Kommt er rasch, so haben sie stets das Rezept zurückgewiesen. Gleich werde ich Morphium haben. Und ich lege die Spritze schon neben mich auf das Wagenpolster, um sofort bereit zu sein. / Nun kommt Wolf. Ich sehe sofort: Er hat nichts bekommen. Er sagt dem Chauffeur die nächste Adresse, setzt sich neben mich und schließt die Augen, ich merke, wie er hastig atmet, er wischt sich mit der Hand den Schweiß aus der Stirn."

Der Ich-Erzähler, der im Fond eines Taxis auf Erlösung hofft, ist ein typischer Protagonist der Neuen Sachlichkeit: Der klinisch-distanzierten Beobachtung der Ärzte, Apotheker, Freunde und Fremden (und seiner selbst) ausgesetzt, wächst ihm - gerade durch den kühlen Blick - Anteilnahme zu. Und die Qual der Entwöhnung überträgt sich auf den Leser.

Die vorliegende, noch von Günter Caspar besorgte Anthologie versammelt abweichende Lebensläufe. Der Protagonist der zweiten Erzählung, "Drei Jahre kein Mensch", landet aufgrund einer Unterschlagung im Zuchthaus. Hans Fallada, so heißt der Defraudant, macht Erfahrung mit den Wanzen - den realen und den eingebildeten, die der Entzug ihm beschert. Von kleinen Schikanen erzählt die Schülergeschichte "Unterprima Totleben" - und deutet ein Ende an, bei dem vom Sitzenbleiben über die Versetzung bis hin zur Relegation alles drin zu sein scheint. Der unter Verwendung eines Gemäldes von Christian Schad passend aufgemachte Band enthält ein sachkundiges Nachwort des Herausgebers und fasziniert wie das übrige, längst kanonisierte Werk dieses Klassikers der Moderne.


Titelbild

Hans Fallada: Sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein. Geschichten.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2004.
159 Seiten, 6,95 EUR.
ISBN-10: 3746653274

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