Die Macht der Begriffsgeschichte

Hans Ulrich Gumbrechts leichthändige Bilanz eines erfolgreichen Paradigmas

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der subjektlosen Geschichtsschreibung in dem 2001 auf deutsch erschienenen Band "1926. Ein Jahr am Rand der Zeit" war Hans Ulrich Gumbrechts Rekurs auf die Aura des großen Wissenschaftlers sowohl mit den Porträts "Vom Leben und Sterben der großen Romanisten" als auch in dem Band "Die Macht der Philologie" einigermaßen provokant. Gemeint war eigentlich die gern unterschätzte Macht des Philologen, der den Mut hat, sich selbst in die Gegenstände seiner Untersuchung einzubringen. Auch an der so aseptischen Tätigkeit des Edierens ist der Körper des Editors beteiligt, so Gumbrecht damals. Nach Jahrzehnten der Dezentrierung geriet also die 'kalte Persona' des Wissenschaftlers in den Fokus wie vielleicht seit der Zeit der Geistesgeschichte nicht mehr, deren Protagonisten Karl Vossler und Leo Spitzer denn auch folgerichtig Gumbrechts Aufmerksamkeit weckten.

In seinem neuen Sammelband situiert der Autor nun eine Kritik der (wiederum weitgehend subjektlosen) Begriffsgeschichte inmitten einer werkbiografischen Schau eigener begriffsgeschichtlicher Beiträge der letzten drei Jahrzehnte. Er verlinkt Wissenschaftsgeschichte und die systemimmanente Forderung nach Innovation mit einem Rückblick auf das Œuvre eines Mitwirkenden an der begriffsgeschichtlichen Bewegung, dessen Texte eben die Signatur Hans Ulrich Gumbrechts tragen.

Das Anliegen des Bandes scheint sich ganz auf die neu geschriebene Einleitung zu beschränken, deren Titelmetapher "Pyramiden des Geistes" auf die inzwischen halbe Bibliotheken füllenden, teils längst fertig gestellten Begriffsgeschichten anspielt und die Gumbrechts Hauptargument zugunsten einer Ersetzung oder Ergänzung jenes erfolgreichen Forschungsprogramms der sechziger und siebziger Jahre bereits enthält. Denn schon Hans Blumenberg hatte in der Schwellenphase der durch Hans-Georg Gadamers hermeneutischen Optimismus mitgetragenen begriffsgeschichtlichen Ära mit seiner Begründung einer Metaphorologie darauf hingewiesen, dass auch in der Philosophie neben dem strengen Begriff die metaphysischen Konjunkturen, wie er das damals nannte, nach wie vor existent sind. Spätestens seit Hayden White wissen wir von den Tropen in der Historiografie, wenngleich Reinhart Kosellecks "Geschichtliche Grundbegriffe" sie leider aussparen - und im Grunde dann auch literarische Texte mit all ihren sprachlichen Kapriolen und begrifflichen Unschärfen gar nicht berücksichtigen dürften, wenngleich Literatur doch bis heute unter anderem auch politische Wirkungen entfaltet. Mit Anselm Haverkamp macht Gumbrecht nun nicht nur auf die historische Prägekraft des Metaphorischen aufmerksam, sondern auch auf den Ausschluss des "sprachlosen Seins" bei voller Konzentration auf das versprachlichte "Überlieferungsgeschehen" nach 1945. Nicht die Beendung der Begriffsgeschichte ist Gumbrechts Anliegen, sondern nach den poststrukturalistischen Konstruktivismen ein neuer Realismus, der denjenigen der Begriffsgeschichte in sich aufnimmt und erweitert.

Die auf die Einleitung noch folgenden 224 Druckseiten des Hauptteils sind also nicht so überflüssig, wie der flüchtige Leser glauben mag; sie sind auch mehr als ein Gumbrecht-Museum oder eine selbstgefällige Sammlung einstmals legitimer Arbeiten. Den Artikeln zu "Moderne" und "Postmoderne", zu "Philosophie", "Stil" und "Maß" sind vielmehr immer schon die Möglichkeiten und Grenzen der Begriffsgeschichte eingeschrieben, handelt es sich doch um anspielungsreiche und in ihrer Verwendungsdichte omnipräsent zu nennende Vokabeln, die in ein streng explikatives Korsett zu zwängen schwer fallen musste. Zudem ist diesen Artikeln jede Menge Selbstreferenzialität zu eigen. Es sind nicht beliebige, sondern exemplarische Texte, die den Lexikografen in die Grenzen des intellektuellen Höhenkamms verweisen und die damals als Beiträge in einer noch offenen, jetzt zutiefst kritisch fortgeführten Diskussion entstanden. Heute sind sie als Resultate der Wissensproduktion nachzulesen und sollten als Widerspiegelungen inzwischen historisch gewordener Erkenntnisprozesse Anstoß sein zu Neuem. Dass auch in jahrzehntelanger Kleinarbeit entstandene Lexika nicht ewig Bestand haben, dürfte Gumbrecht kaum genieren.


Titelbild

Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte.
Wilhelm Fink Verlag, München 2006.
260 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-10: 3770536940
ISBN-13: 9783770536948

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