Das Unheimliche und das Heim

Untersuchungen zur Situation der Interieurmalerei um 1900

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Felix Krämer, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kunsthalle Hamburg, wirft einen konzentrierten Blick auf ein historisch, motivisch und topografisch eng gefasstes Thema: das Interieur, also auf jene Darstellung, in der eine Raumschilderung - hier im privaten Bereich - eine konstitutive Funktion für das gesamte Bildgeschehen ausübt. Sechs ausgewählte Interieurs aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, jeweils von Paul Signac ("Opus 201: Ein Sonntag", 1890 - das bürgerliche Interieur als "Ort der Langeweile"), Edvard Munch ("Nacht", 1890 - als "Ort der Einsamkeit"), Edouard Vuillard ("Salon Natanson", 1897/98 - als "Ort der Auflösung"), Félix Vallotton ("Das rote Zimmer", 1898 - als "Ort der Heimlichkeit"), Vilhelm Hammershoi ("Interieur. Strandgade 30", 1901 - als "Ort der Stille") und Pierre Bonnard ("Farniente", 1899 - als "Ort der Täuschung"), stehen im Mittelpunkt seiner Dissertationsarbeit von 2005.

Aber damit nicht genug. Von diesen modellhaften Interpretationen, die die Spannungen und Widersprüche der besprochenen Werke aufzeigen, werden Querverbindungen zu den anderen Interieur-Darstellungen sowohl des jeweiligen Künstlers als auch der Epoche und der Vergangenheit gezogen, von den verstörenden Bildern Goyas und Piranesis bis zu den heiter besinnlichen Interieurschilderungen Georg Friedrich Kerstings, den atmosphärischen Stimmungen und Farbharmonien von James McNeill Whistler oder den das komplexe Verhältnis zwischen Innen und Außen, Frau und Mann aufzeigenden Innenräumen Gustave Caillebottes. Ausgangspunkt des Verfassers zur Begriffsbestimmung des Unheimlichen ist Sigmund Freuds Essay "Das Unheimliche" von 1919, der seither die Grundlage für alle dieses Phänomen betreffende wissenschaftliche Arbeiten bildet.

Vom Motiv her war das Interieur um die Jahrhundertwende zwar überhaupt nichts Neues, aber es wurde neu gesehen und beobachtet und dann auch gemalt, so dass sich der Zusammenhang mit der Tradition - auch mit dem zu Ende gehenden Impressionismus - nicht mehr so ohne weiteres herstellt. Das Motiv wird umgestellt, umfunktioniert, auf seine Mitteilbarkeit reduziert. Umrisse fixieren Fakten, die Dinge werden hintergründig, erscheinen"deformiert". Darin drückt sich oft auch ein irrationaler Gehalt aus, und die Farben geben Werte wieder, die zwar aus der Erfahrung und Anschauung abgeleitet sind, aber danach systematisiert werden. Das Motiv wird gleichsam zur Nachrichtenübermittlung über das Motiv - mal ohne Gefühlsbetonung, dann wieder mit Empfindung und Stimmung, in jedem Fall aber ohne Illusion -, die den Betrachter in das Geschehen des Bildes einlädt. Dem erschrockenen bürgerlichen Publikum beginnen die Künstler die Härte und Widersprüchlichkeit der seit langem hingenommenen Wirklichkeit klarzumachen. "Diese unterschwellige Angst, die sich in vielfältigen Formen und Intensitäten in den Interieurs ausbreitet, ist das verbindende Element der sechs ausgewählten Interieurs", schreibt Krämer.

Signac glaubte, dank der Methode Seurats ein Malverfahren gefunden zu haben, das die Subjektivität des Eindrucks impressionistischer Bilder überwinde, da es auf vermeintlich objektive Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen sei. In dem streng analytisch komponierten "Opus 201: Ein Sonntag" ist der das Heim dominierende Mann, der hier mit einem Schürhaken im Kamin stochert, ganz dem Innenraum verhaftet. Der Einsatz von Schatten und Linien sorgt dafür, dass auch die Frau trotz ihres Standorts an der Balkontür dem Innenraum verbunden bleibt. Ihr Blick durch die Glasscheibe der geschlossenen Balkontür markiert ihre Distanz zur Außenwelt, die damals gewöhnlich als Bereich des Mannes angesehen wurde. Signac interessierte sich für den Konflikt der Geschlechter untereinander, den Joris-Karl Huysmans als "Ennui" charakterisierte. Hinter der soliden, ehrbaren Fassade tun sich in der bürgerlichen Lebenswelt verborgene Abgründe auf.

Betrachtet man dagegen Munchs "Nacht", so scheint der bewegungslos aus dem Fenster vor sich hinstarrende Mann und die gedämpfte blautonige Farbigkeit zunächst nicht zu der unruhigen Malstruktur zu passen. Und doch verbinden sich hier Figur und Raum zu einem unlösbaren Gefüge. Die Auflösungstendenzen der psychisch verunsicherten Figur scheinen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der seltsamen Belebung des Innenraums zu stehen. Inneres und Äußeres durchdringen sich; das Interieur wird, so Krämer, zu einem Bewusstseinsraum, der als Metapher der Innerlichkeit fungiert: Selbst das Zimmer weist die Krankheitsmerkmale der Figur auf.

In Vuillards "Salon Natanson" blickt der Betrachter auf eine diffuse, in unterschiedliche Brauntöne gefasste Wand mit Kamin, Spiegel, in dem man einen Ausschnitt der gegenüberliegenden, gleißend hell beleuchteten Zimmerwand sieht, und Bildern. Dicht gedrängt stehen die Objekte, wodurch auch dieser seltsam belebte Raum klaustrophobisch eng wirkt. Auch die drei Personen erscheinen nur schemenhaft, ja körperlos. Sie wenden sich entweder ab, sind halb verdeckt oder so unscharf gemalt, so dass die Bildhandlung ungewiss bleibt. Die Präsentation ähnelt der sakralen Inszenierung eines Altarbildes, stellt der Verfasser fest. Vuillard hat hier dramatische Lichteffekte inszeniert. Die Posen seiner Bildfiguren erinnern an Marionettenbewegungen, die von unsichtbarer Hand gelenkt werden. Der Spiegel und die in ihm reflektierten Objekte scheinen einer anderen Sphäre anzugehören. Anstelle des verlorenen Spiegelbildes - als Metapher der verlorenen Identität - sind verstörende Projektionen getreten. Vuillards Interieurs sind Schauplätze geheimnisvollen Geschehens.

Durchgehende Rottöne bestimmen "Das rote Zimmer" von FélixVallotton. Der Raum scheint durch seine leuchtende Farbigkeit fast von innen zu glühen. Doch der Kamin ist verschlossen, strahlt keine Wärme aus. Der Durchgang zum Nachbarzimmer entfaltet eine "Sogwirkung", die Präsentation der Gegenstände auf dem Tisch hat einen "doppelten Boden". Wie ein Kriminalschriftsteller, der vor seinen Lesern eine Vielzahl von Spuren und falschen Fährten ausbreitet, suggeriert Vallottton dem Betrachter, dass dieser alle Anhaltspunkte und Indizien sammeln, vergleichen und bewerten müsse. Erst dann ist es möglich, die verschiedenen Puzzleteile zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Der Künstler holt den Betrachter mit ins Zimmer, rückt ihn nah ans Geschehen heran. Die Sessel könnten die Rolle eines Ehepaares verkörpern, das sich im Wohnzimmer gegenübersitzt. Die Möbel und Objekte scheinen in einer geheimnisvollen Konkurrenz zu den Bewohnern zu stehen. Die vor fremden Blicken abgeschirmte Wohnung erscheint als Kampfplatz der Geschlechter. Vallotton interessierten besonders gesellschaftliche Verhaltensmuster, die sich heimlich im Schutz des Hauses abspielten, das Beziehungsgeflecht aus Begierde, Unterwerfung und Zwang, Angst und Argwohn.

Wie auf einer Bühne erstrecken sich die in die Tiefe des Raums fluchtenden Dielen in des Dänen Vilhelm Hammershois "Interieur. Strandgade 30". Ein leerer, bühnenartiger Vordergrund, rätselhafte Schattenverhältnisse, eine disfunktionale Platzierung der Möbel, die sie wie Requisiten erscheinen lassen, entrückt die Darstellung der Wirklichkeit, ja formt diese zu einer eigenen Gegenwirklichkeit um. Hammershoi schildert sein "trautes Heim", ohne einen intimen Einblick in die Sphäre seiner Wohnung zu gewähren: Durch die Fenster kann man nicht sehen; die Türen lassen sich nicht öffnen; die Musikinstrumente können nicht bespielt werden; der Raum ist von einer befremdlichen Leere und Lautlosigkeit. Die stetige Irritation der Betrachtungserwartungen, führt der Verfasser aus, ist ein zentrales Motiv in Hammershois Kunst, die durch ihren verschlossenen Charakter zu einer Selbstkonfrontation des Betrachters führt.

Pierre Bonnards "Farniente" zeigt eine sich unter einem Zipfel des herabgleitenden Bettuchs räkelnde Frau, den Fuß spielerisch auf den Schenkeln gespreizt; das reiche Haar schmiegt sich an ihren Hals. Eine Pfeife auf dem Nachttisch verweist diskret auf die Anwesenheit ihres Liebhabers, der natürlich Bonnard selbst ist. Ein Bild sexueller Leidenschaft, doch von der morbiden Stimmung, den unerklärlichen Schatten und den eigenartigen körperlichen Deformationen geht eine Metaphorik der Beunruhigung aus. Bonnard führt den Betrachter in das Schlafzimmer, den "heiligen Ort", und konfrontiert ihn mit seiner Lebensgefährtin Marthe, die er mehr als vierzig Jahre lang gemalt hat und die in seinen Bildern nie alt wird. Der Blickwinkel suggeriert dem Betrachter aber, dass er an des Malers Stelle stehe und auf diese nackte Frau blicke. Wie eine Sirene lockt sie ihn in ihr Reich, das sich plötzlich in ein bedrohliches Szenario verwandelt, in der Reales und Irreales, Bewusstes und Unbewusstes, Heimeliges und Unheimliches zusammenfallen. Die Frau wird zur Zerstörerin einer Ordnung, die sich im Haus eigentlich durch das Weibliche erst vervollständigt. Die Idee des schützenden Innenraums schlägt um in eine bestürzende Angstphantasie, für die E.T.A. Hoffmann und Odilon Redon Pate gestanden haben. Es ist Freuds Konzept des Unheimlichen, das Bonnards "Farniente" vorwegnimmt.

Krämer unternimmt ebenso kenntnisreiche wie spannende Exkurse in die Interieurmalerei um 1900, die nicht mehr das häusliche Glück, sondern die Bedrohung des Einzelnen, seine Ängste und Verlorenheit im Heim zeigen. Die unter formalen Gesichtspunkten sehr unterschiedlichen Darstellungen verbindet neben dem gemeinsamen Motiv auch die Tatsache, dass sich die Künstler des Interieurs als eingeschriebenem Zeichensystem bürgerlicher Normen und Werte bedienten, um die damit verknüpften hohen Erwartungen zu untergraben und zu hinterfragen. Die Vorstellung, wonach der Mensch seine Umgebung bestimmt, wird in ihr Gegenteil verkehrt. Die Räume verweigern Schutz, sie erinnern eher an seltsam belebte Fallen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Nicht die Menschen, sondern die Möbel und Objekte werden zu Akteuren des Interieurs. Die Figuren verharren regungslos, wie eingeschlossen in ihren Behausungen. Hier spielt sich ein lautloser Kampf der Geschlechter ab.


Titelbild

Felix Krämer: Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900.
Böhlau Verlag, Köln 2006.
262 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3412035068
ISBN-13: 9783412035068

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