Dieses Erzählen, das keins ist

Im Internet erscheint das dritte Kapitel von Elfriede Jelineks Fortsetzungsroman "Neid"

Von Annika NickenigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Nickenig

Auf gewohnt schwer zugängliche Weise präsentiert sich der kapitelweise im Internet erscheinende Privatroman Elfriede Jelineks und führt auf verschlungenen Pfaden in österreichische Berglandschaften, sterbende Städte und menschliche Abgründe. Themen und Inhalte, die den Lesern ihrer Texte vertraut sind, säumen dabei den Weg: Geschichtsdiskurse, Genderdebatten, Medienreflexionen und Kommentare über das eigene Schreiben sind wiedererkennbar und werden auf typische Weise miteinander verflochten. Jelineks stilistische Eigenart, über scheinbar willkürliche assoziative Motivverkettungen auf sehr strategische Weise Parallelen und Kontinuitäten aufzuzeigen, bewirkt auch in diesem Fall die Vernetzung des Offenkundigen mit dem Verborgenen, des Nebensächlichen mit dem Wesentlichen, des Öffentlichen mit dem Privaten zu einer vielschichtigen Reflexion.

Dennoch ist den bekannten und disparaten Themen ein spezifisches Prinzip übergeordnet, welches sich als Strategie der Verkehrung, Umkehr und Wiederkehr bezeichnen ließe - und dies im formalen, inhaltlichen, wie auch im buchstäblichen Sinne. Der Begriff der Kehre beschwört die Terminologie Martin Heideggers herauf, mit dessen Werk, insbesondere seiner sprachlichen Verfasstheit, sich Jelinek immer wieder auseinandergesetzt hat, besonders deutlich beispielsweise in "Totenauberg" (1991) oder "Wolken.Heim." (1990). Zumindest diese sprachliche Bezugnahme - das Aufgreifen, Verschieben und Demontieren der Heidegger'schen Schreibweise, etwa die Verwendung etymologisch und lautlich verwandter Wörter, und die Kritik an dem in seinen philosophischen Schriften feststellbaren Schweigen angesichts der Naziverbrechen -, ist auch im Fall von "Neid" sichtbar und zeigt sich insbesondere in der konkretisierten und proteischen Verwendung von Verkehrungen aller Orten.

Da ist zunächst der Fremdenverkehr, traditionsgemäß in Jelineks Texten Inbegriff ihrer Österreichkritik. Hier kommen die Instrumentalisierung und Beherrschung der Natur zusammen mit den Bemühungen, entgegen aller historischen Lasten ein unschuldiges Bild zu vermitteln, hinter dessen postkartengleichem Liebreiz keine Erinnerung an Verbrechen, Vernichtung und Verdrängung aufkommen mag. Mit der touristischen Vermarktung der Natur geht auch eine Vermarktung von Kultur und Geschichte einher, wobei der Text Prozesse der Nutzbarmachung, Vermessung und Ausbeutung von der wirtschaftlichen an die menschliche Ebene rückkoppelt.

Auf dieser Ebene sieht es indes düster aus, denn der Fremdenverkehr ist in "Neid" vor allem der verkehrte Umgang mit Fremden. Die touristische Aufbereitung karger Dörfer, die in mehrfachem Sinne im Schatten der Berge ruhen und eigentlich so gar nicht in Unruhe versetzt werden wollen, etwa durch das quälende Bohren in der Vergangenheit, wird dem Umgang mit unerwünschten Fremden gegenübergestellt, die sowohl Gastarbeiter sein können wie auch ungarische Juden. Die Parallelschaltung ungleichzeitiger Ereignisse, Ausgrenzungsphänomene und Verhaltensweisen stellt Kontinuitäten heraus, die dem Bild des unschuldig 'gewordenen' Alpenlandes widersprechen und die nationalsozialistischen Verbrechen auf eine Geisteshaltung zurückführen, die sich auch nach Ende des Krieges in Verweigerung von Aufarbeitung und in Rassismus niederschlägt.

Der Begriff der Umkehr bildet dabei das religiös-ideologische Fundament für ein Selbstverständnis von Unschuld, die sich nach scheinheiliger Bekehrung oder innerer Einkehr einzustellen vermag, um die Sünden, an die man sich ohnehin nicht gern erinnert und die man auch nicht begangen hat, hinwegzunehmen. Diese Form der Umkehr wird bei Jelinek als Sinnverkehrung, der steiermärkische Katholizismus als Träger einer politischen Haltung offensichtlich.

Die beschauliche Berglandschaft ist bereits in "Die Kinder der Toten" (1995) Schauplatz für eine lawinenartige Wiederkehr der verdrängten Opfer des Nationalsozialismus. Im ersten Kapitel von "Neid" dient sie der konkreten Erinnerung an den Eisenerzer Todesmarsch und das Massaker am Präbichl, bei dem im April 1945 mehr als 200 Menschen unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung ermordet wurden. (Eine vom Elfriede Jelinek-Forschungszentrum eigens für interdisziplinäre Beiträge zu dem Text "Neid" eingerichtete Internetseite, das 'JeliNetz', verzeichnet eine Reihe von historischen Hintergrundinformationen und Dokumenten über dieses Ereignis und seine mangelnde Aufarbeitung im österreichischen Geschichtsdiskurs.) Der Todesmarsch und die Mordbereitschaft der Bevölkerung werden in ihrer Grausamkeit für die Autorin zu einem unsagbaren, undenkbaren Ereignis, das nur unzureichend dargestellt werden kann. Besonders eine verkehrte Erinnerungspolitik, bei der den Erinnernden mehr Aufmerksamkeit und Hochachtung zukommt als den zu Erinnernden, wird von Jelinek in ihrer Glaubhaftigkeit hinterfragt.

In dritten Kapitel von "Neid" wird der den Text dominierende Berg weniger in seiner Eigenschaft als historischer Schauplatz, sondern vor allem in seiner Funktion als Naturphänomen aufgegriffen und darüber an die Thematik der Geschlechterverhältnisse gekoppelt. Das Ideal von natürlicher Weiblichkeit entpuppt sich als widersprüchlich, da doch die Schönheit der Frau auch um den Preis der Künstlichkeit hergestellt werden muss. Jelinek spielt mit der allgemeinen Ablehnung von Genderdiskursen und Diskussionen um die Veränderbarkeit von Geschlechterhierarchien, und greift doch über das Postulat der Gemachtheit geschlechtsspezifischer Zuschreibungen nur den grundsätzlichen Konstruktionscharakter von Natur und Natürlichkeit auf.

Die gesellschaftliche Position von Frauen - Frauen in der globalisierten Arbeitswelt, Frauen in männerverlassenen 'shrinking cities', Frauen im Dienstleistungsgewerbe - definiert sich letztlich doch im Kontext ihrer Abhängigkeit von Männern, vor allem in ihrem Wahrgenommenwerden durch Männer, wobei dabei, wie für die Landschaft, der schöne Schein und die Nutzbarkeit Vorrang haben. Fremdenverkehr hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung des sexuellen Verkehrs mit Fremden, und ähnlich wie das touristisch vermarktete Dorf muss der dienstleistende weibliche Körper 'bewohnbar' sein. Nur eines ist dabei undenkbar: Geschlechterumkehrung.

Verkehrung ist aber auch, auf poetologischer Ebene, das Strukturprinzip des Textes: es gibt weder Anfang noch Ende, keinen Erzählfluss, keine erkennbaren Protagonisten (abgesehen von Brigitte, die aber nur dadurch gekennzeichnet ist, dass sie der Erzählerin ständig verloren geht) und erst recht keinen roten Faden. Zudem werden, ähnlich wie in "Die Kinder der Toten", die Geister der Vergangenheit heraufbeschworen. Die Wiederkehr von bereits Gedachtem, Geschriebenem, von Vergessenem und Verdrängtem wird zur offenen Absage an jede Vorstellung von Originalität. Stattdessen wird der Hinweis auf das eigene Wiederholungsverfahren seinerseits permanent wiederholt. Für eine solche Schreibweise bietet sich das Internet geradezu an - hätte sie das doch in einem gedruckten Buch gar nicht gedurft, wie die Autorin an einer Stelle aufatmend bemerkt. Die Wahl für das Internet dient dem Text als Ausgangspunkt einer Reflexion über das Medium selbst. Nirgendwo ist Originalität so einfach herstellbar und so unwiderruflich illusionär, sind die Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, Nähe und Distanz so unsichtbar wir im Netz.

Die Publikation in Form einer Fortsetzung eröffnet zudem komplexe und immer wieder neue Lesarten, da der jeweils hinzugekommene Text neues Licht auf die bereits erschienenen Kapitel wirft, die bereits vorhandenen Diskurse ergänzt und kommentiert. Entgegen den Aussagen der Erzählerstimme, die den Leser beharrlich als abwesend, blind oder dümmlich charakterisiert, funktioniert der Text schließlich trotz allem nur, indem er eben doch gelesen und in seiner Ernsthaftigkeit wahrgenommen wird, indem der Leser dabei zuschauen kann, wie der Dreck der Geschichte von der Dichterin gegen den Strich gekehrt wird.