Ein Plädoyer für die Zivilgesellschaft

Amartya Sen warnt vor der "Identitätsfalle"

Von Claus-Michael SchlesingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claus-Michael Schlesinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Untertitel des Buchs von Amartya Sen lautet "Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt" und benennt damit das von Samuel Huntington geprägte Schlagwort vom "Kampf der Kulturen" als primären Bezugspunkt, dem der Begriff der "Identitätsfalle" entgegen gesetzt wird. Sens Kritik an kulturalistischen Identitätskonzepten arbeitet dabei auf drei Ebenen: erstens der Konzepte, zweitens der Plausibilisierungsstrategien und drittens der globalen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse.

Gegen die Behauptungen singularer Identitäten, homogener Kulturen und die daraus abgeleitete monokausale Erklärung von Konflikten durch Kulturdifferenz setzt Sen die Pluralität individueller Identitäten, die grundlegende Heterogenität und Kontingenz von ethnisch oder kulturell bestimmten Gruppen und Grenzen sowie eine vernunftbestimmte Freiheit der Wahl, die es den Einzelnen ermöglicht, die verschiedenen Aspekte der eigenen Identität - diese reichen von der Mitgliedschaft im Tennisclub bis hin zu sexuellen Selbstbeschreibungen und Vorlieben - auszuwählen und je unterschiedlich zu gewichten.

Die Kritik an den Plausibilisierungsstrategien bezieht sich vor allem auf die historische Tiefendimension - unterhalb der Aktivierung tausendjähriger Kulturgeschichten wird gar nicht erst argumentiert -, mit der sowohl der Artikel als auch das Buch von Huntington zum "Kampf der Kulturen" den starken Geltungsanspruch der vorgeschlagenen Differenzierung und die Beschreibung verschiedener aktueller Konflikte als ,ursprünglich' zu untermauern suchen. Allerdings unterläuft Sen seine einleuchtende Argumentation, wenn zur Plausibilisierung der eigenen auf die Gegenwart bezogenen Thesen ebenfalls die Kulturgeschichte von Orient und Okzident der letzten zweitausend Jahre bemüht wird.

Widersprüchlich ist vor dem Hintergrund des entworfenen pluralistischen Identitätskonzepts, das singuläre Begründungen ablehnt, auch die Rede von einer "muslimischen Intelligenz", der die Welt "bedeutende Entwicklungen in der Geschichte von Mathematik, Wissenschaft und Technik" zu verdanken habe. Auf diese Weise werden genau die Vielfalt und Differenzierungsmöglichkeit, die Sen für seinen Entwurf individueller wie kultureller Identität geltend macht, auf einen diffusen religionsbezogenen Nenner gebracht, der ansonsten vehement kritisiert wird.

Gegen die eindimensionale Begründung von Konflikten durch ethnische und/oder kulturelle Differenzen setzt Sen die Mehrdimensionalität der je lokalen und globalen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die vielfältige Differenzen produzieren, aus denen sich Konflikte entwickeln können. Dabei denkt Sen die verschiedenen Bereiche von Religion, Politik, Wirtschaft und Sexualität et cetera als stark voneinander getrennt. Die plurale Verankerung von Individuen in verschiedenen sozialen Zusammenhängen - als Paradebeispiel dient unter anderem eine lesbische Besitzerin eines Tennisclubs, die die konservative Partei wählt und keine Pommes mag - wird dabei auf die Möglichkeit einer freien Wahl gegründet. Nur am Rande werden die Einschränkungen erwähnt, die einer solchen Wahl zunächst vorausgehen können. Damit werden all jene diskursiven Bedingungen von Entscheidungen außer Acht gelassen, die ja gerade Teil der identischen Person sind, die eine Entscheidung über ihre Identität fällen will und soll. Außerdem können Konzepte, die als Grundlage von Handlungen und Selbstverständnis dienen, wohl hinterfragt, aber nicht per Vernunftdekret ausgetauscht werden. Die Loslösung von tief verankerten Identitätsmerkmalen ist, selbst wenn sie als notwendig und wünschenswert erkannt wird, äußerst schwierig. Die vorgeschlagene Begründung wünschenswerter Identitätsbildung durch Vernunft in Abgrenzung zu einem deterministischen Kulturalismus ist vor diesem Hintergrund zu einfach.

Als weiterer Widerspruch erscheint Sens Beschreibung des mit einem Begriff der Zivilgesellschaft gekoppelten Nationalstaats als Möglichkeit transkultureller Identifikation. Als positives Beispiel gelobt wird dabei Singapur für die Etablierung einer nationalen Identität über die Grenzen der verschiedenen Kulturdifferenzen hinweg. Dass Nationalität als Identifikationsmerkmal ebenso reduktionistisch ist wie Kultur, bleibt jedoch unerwähnt. Als Negativbeispiel dienen die Riots in der Pariser Banlieue im Jahr 2005, "die mit Rasse und ethnischer Zugehörigkeit zu tun haben." Nun lässt sich kaum bestreiten, dass die Riots mit Kulturdifferenz "zu tun haben". Festzustellen ist aber, dass in diesem Fall ebenso soziale, politische, wirtschaftliche bis hin zu architektonischen Differenzen ins Feld geführt werden können und von Beobachtern auch in Anschlag gebracht wurden.

Insgesamt zeigt sich das Buch von Amartya Sen als gut lesbare Argumentation gegen das fatale und außergewöhnlich erfolgreiche Schlagwort vom "Kampf der Kulturen". Der Begriff der "Identitätsfalle" und die zugehörige Argumentation führt verschiedenste Differenzierungsmöglichkeiten vor und setzt der Reduzierung sowohl gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher als auch individueller Identitäten auf diffuse Kulturgrenzen einen humanistisch geprägten Begriff pluraler Identität entgegen. An den genannten Beispielen zeigt sich allerdings, dass auch Sen selbst der Identitätsfalle nicht entgeht.


Titelbild

Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt.
Übersetzt aus dem Englischen von Friedrich Griese.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
208 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406558122

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