Von der Kraft der Anekdote

Über die deutsche Ausgabe der Romane George Taboris

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 90. Geburtstag von George Tabori erschien im Wagenbach Verlag der von Wend Kässens herausgegebene Band "Der Spielmacher". Das Buch versammelt Gespräche mit Tabori, die der Herausgeber selber, aber auch andere Journalisten wie Rolf Michaelis, Karsten Witte, Ursula Voss, Peter von Becker, Fritz J. Raddatz und Christine Dössel für verschiedene Medien seit 1976 mit Tabori geführt hatten.

Im Mittelpunkt der Gespräche steht das Theater. Kein Wunder, war doch Tabori, seitdem er 1969 in Berlin sein Stück "Die Kannibalen" inszeniert hatte, in Deutschland als Theatermann bekannt geworden. Dass der Autor jener Stücke, die mit jüdisch-intellektuellem Witz eine lakonisch-tragische Abgründigkeit entstehen lassen, in der das Lachen zur Qual wird, auch ein herausragender Romanschriftsteller war, blieb den Deutschen lange unbekannt. Bereits sein erster Roman "Beneath the Stone the Scorpion", 1944 zunächst in London erschienen, wies ihn als ungewöhnlichen Autor aus. Irritiert registrierte man, dass Tabori einen Hitler-Offizier in den Mittelpunkt seines Romans gerückt hatte. "Mein erster Roman", schrieb Tabori später, "hatte einen Deutschen zum Helden. Einige amerikanische Kritiker schelten mich dafür der taktlosen Objektivität. Die war es nicht, vielmehr eine gallebittere Wut über die kriegerischen Zeiten, die den Menschen mit der Dummheit aller Dämonologien zum Stereotyp abstrahieren." Unter dem Titel "Das Opfer" erschienen der Erstling sowie die nachfolgenden Romane "Gefährten zur linken Hand" (1946), "Ein Guter Mord" (1947) sowie "Tod in Port Aarif" (1951), allesamt von Taboris zweiter Ehefrau Ursula Grützmacher-Tabori aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und von Wend Kässens zwischen 1992 und 1999 herausgegeben. Zu Taboris 90. Geburtstag gab der Steidl Verlag einen alle vier Romane umfassenden Band heraus.

Nach der Übersiedlung von England nach Amerika im Jahr 1949 arbeitete Tabori zunächst als Drehbuchschreiber. Seit 1953 lebte er in New York , wo das Theater ins Zentrum seines Schaffens rückte. Ausschlaggebend war eine Begegnung mit Brecht im Jahr 1950. "Die Bekanntschaft mit Brecht war flüchtig. Aber durch diese Begegnung kam ich zum Theater", erinnert sich Tabori. Indes bot das amerikanische Theater dem Stückeschreiber und Regisseur nur eingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten. "Amerikanisches Theater", so verglich er 1976 in einem Gespräch mit Rolf Michaelis, "ist wie ein hastiger Bordell-Besuch, deutsches Theater ist wie eine Ehe."

Die Beziehung begann mit dem Stück "Die Kannibalen", dessen deutsche Erstaufführung Tabori in Berlin selbst inzenierte. Erstmals taucht hier ein autobiografisches Moment auf, das von nun an das zentrale Thema seiner Theaterarbeit sowohl als Stückeschreiber wie auch als Regisseur sein sollte: die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Während Tabori selbst mit britischer Staatsbürgerschaft im Nahen Osten lebte, geriet die Familie in Budapest in die Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Taboris Vater wurde 1944 in Auschwitz umgebracht. Seine Mutter entkam durch Glück und Zufall der Deportation. Die Geschichte von der unglaublichen Rettung der Mutter - "Meine Mutter hat mir die Geschichte nach dem Krieg erzählt, und sie hat nie gelogen." - erzählt Tabori in dem Text "Mutters Courage".

Beide Ereignisse, der Tod des Vaters wie das Überleben der Mutter sind im Ganzen der Vernichtung der Shoah kaum mehr als zwei Anekdoten. "Anekdoten sind nicht besonders beliebt im deutschsprachigen Raum", sagte der 86-Jährige in einem Gespräch mit Georg Diez und Dominik Wichmann. "Für mich allerdings sind Anekdoten sehr, sehr wichtig." Warum? "Es geht ihm um den entlarvenden Charakter der Anekdote", erläutert Wend Kässens. Sie enthalten das Hintergründige, das Verborgene, aber auch das Unterdrückte, kurzum: Sie verweisen auf das Menschliche. "Wenn man nun diese Menschen ernst nimmt," so Tabori, "und ich bin nicht bereit, irgendetwas anderes ernst zunehmen, muss man die akademische Verachtung für Anekdoten vergessen."

Mit den Anekdoten einher geht der Witz, der zu Taboris Theaterarbeit gehört. Die "Flucht in den Witz", die Tabori auf eine entsprechende Frage einmal seinen Hauptcharakterzug nannte, ist Grundlage jener Theaterarbeit, die, so Kässens, "mit sarkastischem Witz und tabuloser Konkretion menschlichen Denkens und Handelns hemmungslos in immer neuen Anläufen versucht, das Unsagbare zur Sprache zu bringen." Dieses Theater geht auch deshalb aufs Ganze, weil es von allen Beteiligten einen Kraftakt verlangt: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Die auf der Freud'schen Erinnerungsarbeit basierende Anforderung erweitert den künstlerischen Prozess um existenzielle individuelle Erfahrungen. Zugleich wird durch diese Anstrengung aber auch Glaubwürdigkeit und Authentizität möglich. In dieser riskanten Komplexität findet die Theaterarbeit zu dem, was bereits die Anekdote zu wahren suchte: Das Menschliche!


Titelbild

George Tabori: Die Romane. Ein guter Mord - Tod in Port Aarif - Das Opfer - Gefährten zur linken Hand.
4 Bände - Herausgegeben und mit Nachwort von Wend Kässens.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Grützmacher-Tabori.
Steidl Verlag, Göttingen 2004.
1072 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3882439882
ISBN-13: 9783882439885

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wend Kässens: Der Spielmacher. Gespräche mit George Tabori.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005.
160 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 380313613X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch