Talent fürs Sterben

Péter Nádas' knappe, eindrückliche Berichte über ein ungarisches Dorf und über seinen "eigenen Tod"

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das dünne Büchlein lässt von außen kaum ahnen, dass darin nicht weniger verhandelt wird als das Vergehen einer kulturellen Gemeinschaft sowie das Ende der individuellen Existenz.

"Behutsame Ortsbestimmung", der erste von zwei Berichten, beschreibt die vormoderne Lebenswelt eines westungarischen Dorfes, in dem Nádas seit längerer Zeit wohnt. Jahrzehnte der Beobachtung kondensieren auf nicht einmal dreißig Seiten. Nádas hat das, wovon er schreibt, durchdrungen und kann sich daher auf das Prägnanteste und Eindrücklichste beschränken. Gleichzeitig bleibt der Autor naturgemäß ein Außenstehender vor dem "undurchdringlichen und wasserdichten Weltverständnis" der Dorfgemeinschaft und ihren aus Jahrhunderten gewachsenen Lebensformen.

"Man bekommt das Gefühl, dass das Leben hier nicht aus persönlichen Erlebnissen, nicht aus reflektierter Geschichte, nicht aus Erinnern und Vergessen, sondern aus tiefem Schweigen besteht. Das ist allerdings begreiflich, wird doch der mit einem individuellen Bewusstsein gesegnete Mensch fortwährend gezwungen, etwas mehr zu sagen, als er weiß, wohingegen in einem prämodernen Milieu jeder wesentlich weniger sagt, als alle wissen."

Im Dorf wird nicht gegrüßt, auch wenn alle wissen, dass dies draußen in der Welt selbstverständlich ist. Treffen sich zwei aus dem Dorf, beginnen sie - beide - zu sprechen und verstummen erst, wenn der andere außer Hörweite ist. Niemand käme auf die Idee, jemals "Wie geht's?" zu fragen. Ähnlich ritualisierte Übereinkünfte regeln andere gemeinschaftliche Entscheidungen, etwa für die Aussaat oder das Verhängen von Strafen. Geld spielt innerhalb der Dorfgrenzen keine Rolle, es ist durch ein System der nicht-monetären Verschuldung ersetzt, das gleichzeitig hochfunktional für die soziale Ordnung ist: "... auch das Verhältnis von Familien und Personen untereinander bestimmen diese Tauschhandelsakte tiefgreifender als sonst irgend etwas."

Nádas' Text ist im Grunde eine ethnologische Meisterleistung. Er fertigt eine plausible Skizze eines fremden Sozialorganismus an, ohne dessen Fremdsein zu transzendieren. Zudem bewahrt er die Erinnerung an eine in der Konfrontation mit der säkularen, demokratischen, vernetzten Welt dem Untergang geweihte Gemeinschaft.

Auch der zweite Text ist autobiografisch inspiriert und hat ebenfalls ein fundamental Fremdes als Gegenstand: den "eigenen Tod" (bereits 2002 im Steidl Verlag mit einer Fotoserie von Nádas veröffentlicht). Nádas beschreibt dort ein mehrstündiges Nah-Tod-Erlebnis nach einem Herzinfarkt.

Mit analytischem, fast schon unterkühltem Blick beobachtet er sich in seiner Umgebung, während ihm Luft, Kraft und Selbstbeherrschung schwinden. Nádas schaut sich beim Sterben zu, ironisch-distanziert, interessiert und erstaunt, ohne je die Contenance zu verlieren.

"In der Stunde seines Todes bleibt der Mensch tatsächlich allein, was aber als Gewinn zu verbuchen ist." Es scheint ihm irgendwie zu gefallen, obwohl die Symptome selbst natürlich unangenehm sind und er immer wieder um seine Erscheinung und seine Würde besorgt ist. Die bereichernden Einsichten aber überwiegen. Angst oder Bestürzung scheinen im Moment des Todes nicht vorzuherrschen. Wenn man annimmt, man sei ungefähr so gut wie Nádas aufs Sterben vorbereitet oder ähnlich talentiert dafür, ist dies eine überaus tröstliche Perspektive.

"Schmerz, Luftmangel, Todesangst und ein Puls von zweihundert verhindern nicht, dass eine narzisstische und exhibitionistische Zufriedenheit durch das Körpergefühl hervorschimmert." Während der Autor also immer weniger von den Ärzten und Krankenschwestern um sich herum mitkriegt, vertieft sich die mystische Reise ins All-Eine. "Die Einzelheiten meines Lebens standen nicht mit der Geschichte meines Lebens in Zusammenhang. Eine solche Geschichte gibt es nämlich gar nicht. Was mich unendlich überraschte." Und "Gott ist leider in der Totalität der Zeit nicht zu entdecken, ich muss einsehen, dass er nicht existiert, ich habe mich getäuscht.... Ein peinlicher Irrtum." Dennoch leuchtet schließlich "ein blendendes Licht in den Raum des Bewusstseins", die beste Metapher für das Göttliche, wie auch Nádas einräumt. Was es mit diesem Licht, das ihm am Ende eines Tunnels mit gerippten Wänden entgegen scheint, auf sich hat, darf jeder selbst nachlesen und sich über die Angemessenheit von Nádas' "Lösung" ein Urteil bilden.

Abschließend hätte man gern noch mehr über die Zeit danach, nach dem Sterben und nach der Rückkehr ins Leben erfahren. Nádas schildert sie als entrückt zwischen höherer Weisheit und quasi post-traumatischer Resignation, so dass es ihm schwerfällt, am Leben teilzunehmen oder auch nur, sich dafür zu interessieren.

Nádas' Berichte bestechen in ihrer Dichte sowie durch die Feinheit und Präzision des Ausdrucks. Sie bieten eine ungewöhnliche Lektüre mit Nachhall.


Titelbild

Péter Nádas: Behutsame Ortsbestimmung. Zwei Berichte.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Berlin Verlag, Berlin 2006.
80 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3827004020

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