Eine chaotische Heldin

Margaret Atwood schreibt mit spitzer Feder

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte von "Lady Orakel" beginnt geheimnisvoll und vielversprechend. Ich-Erzählerin Joan Foster, gefeierte Autorin eines Bestsellers, hat in Kanada ihren Tod vorgetäuscht und sucht nun Zuflucht in Italien. Kein Zweifel, sie hat etwas zu verbergen, aber was? Der Leser wird auf eine harte Probe gestellt, denn ehe Joan den Grund für ihr Exil verrät, wirft sie einen langen Blick auf ihre Kindheit. Aber dieser fällt so spannend und unterhaltsam aus, dass uns die Anfangsfrage bald nicht mehr bedrängt.

Als Kind war sie schwer, groß und übergewichtig, erinnert sich Joan, und lag dauernd im Clinch mit ihrer Mutter, die es einfach nicht ertrug, eine Tochter zu haben, die wie ein "Belugawal" aussah. Nur bei Tante Lou fühlte sich das heranwachsende Mädchen wohl und akzeptiert. Als Tante Lou eines Tages plötzlich stirbt, hinterlässt sie ihrer Nichte etwas Geld, zweitausend Dollar, unter der Bedingung, dass sie hundert Pfund abnimmt. Nach einem handfesten Streit mit ihrer Mutter verlässt Joan das Elternhaus und geht nach London, um sich hier Tante Lous Geld entgegen zu hungern. Sie wird die Geliebte eines polnischen Grafen, wohnt bei ihm und beginnt - da sie inzwischen entdeckt hat, dass sie sich mühelos verwickelte Geschichten ausdenken kann -, Trivialromane zu schreiben und unter dem Namen ihrer Tante zu veröffentlichen. Immerhin ist sie schwärmerisch und sentimental veranlagt, mit viel Sinn fürs Theatralische, und hat seit jeher neben ihrer Alltagsexistenz ein Fantasieleben geführt. Auch in den folgenden Jahren entzieht sich die Heldin immer wieder der bewussten Auseinandersetzung mit sich selbst und der Realität und flüchtet häufig in die literarische Ersatzwelt ihrer Kitschromane.

Später heiratet Joan einen glücklosen Anarchisten und politischen Träumer. Sie verschweigt ihm ihre Tätigkeit als Erfinderin von Trivialromanen und führt ihn auch in anderen Dingen hinters Licht, indem sie ihre beiden Namen und Identitäten so weit wie möglich auseinanderzuhalten versucht und sich sogar eine andere Mutter erfindet, eine freundliche, sanfte Frau. Nach ihrer Heirat erscheint unter ihrem Mädchennamen der Roman "Lady Orakel". Da Joan mittlerweile gemerkt hat, dass "Okkultismus groß im Kommen" ist, hat sie ihre Romanhelden mit magischen Kräften ausgestattet. Das Buch wird ein großer Erfolg mit all den dazugehörenden Begleiterscheinungen, mit Fernsehauftritten, spektakulären Interviews und einer Fülle von Buchbesprechungen. Bald führt Joan ein wahres Doppelleben. Sie wird die Geliebte eines exzentrischen Künstlers, der, wie er selbst sagt, unter der Bezeichnung "Kon-kreative Poesie" die Kreativität wieder konkret gemacht hat. Unsere Bestseller-Autorin aber, eine chaotische Person mit überbordender Fantasie, kommt sich immer mehr abhanden. Männer werden nicht schlau aus ihr und wollen die zwanghafte und romantische Lügnerin ständig in bestimmte Rollen drängen, und als dann noch ein Erpresser auftaucht, der ihre wenig image-gerechte Vergangenheit als extrem dickes Mädchen und Verfasserin von Trivialromanen zu enthüllen droht, täuscht sie ihren Tod vor. Aber neugierige Leute lassen ihr auch in Italien keine Ruhe, so dass wenig Aussicht besteht, dass Joan von ihren erfundenen Identitäten und Lügengeschichten loskommt.

Obgleich manche Passagen allzu sehr ausgewalzt werden, so ist der Roman doch durchweg amüsant und stellenweise auch grotesk: er liest sich mitunter wie eine Parodie auf unsere Zeit. Unverkennbar macht sich die 1939 in Ottawa geborene Schriftstellerin und Literaturkritikerin Margaret Atwood - die "Frankfurter Allgemeine" nannte sie einmal "Kanadas Vorzeigeautorin und Beinahe-Feministin" - über Modeströmungen lustig, über unrealistische Fanatiker und linke Bewegungen, weibliche Wunschvorstellungen, den Literaturbetrieb im allgemeinen und die Machart von Trivialromanen und den Geschmack des Publikums im besonderen. Die einzelnen Figuren zeichnet sie witzig und treffsicher mit hintergründiger Ironie und spitzer Feder, vor allem die Männerwelt wird mit Seitenhieben reichlich bedacht. Humorvoll, zuweilen auch zynisch, hält sie der heutigen Gesellschaft mit ihren Ansichten über Identitäten, ihrer Oberflächlichkeit, Verlogenheit und Sensationsgier einen nicht allzu schmeichelhaften Spiegel vor. Obgleich das Buch schon vor mehr als zwei Jahrzehnten erstmals in Kanada auf dem Buchmarkt erschien, hat es von seiner Aktualität nichts eingebüßt.

Titelbild

Margaret Atwood: Lady Orakel.
Claassen Verlag, München 2000.
376 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3546000021

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