Experiment, Performanz und Inszenierung: Der Autor als homo ludens

Über Petra Gropps medienästhetische Erkundung der literarischen Avantgarde seit 1945

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Petra Gropps umfangreiche Mainzer Dissertation verfolgt die medienästhetischen Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945 an den Beispielen der experimentellen und der Pop-Literatur. Sie geht von einem Paradigmawechsel in Form eines 'medial turn' in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus, der die "Interaktion mit zeitgenössischen Konzeptionen von Schrift" in den Mittelpunkt poetologischer Diskurse gerückt habe. Der 'medial turn' habe das Bewusstsein dafür geschaffen, Literatur als "medienästhetische Praxis der Schrift zu verstehen" und sie neben Medien wie Film, Theater oder Fotografie als ein weiteres Medium zu begreifen. Methodisch schlägt Gropp daher den Weg ein, Verfahren der Literaturtheorie, der Medien- und Kulturwissenschaften zusammenzuführen, um diesen medienästhetischen Status der Literatur und ihre poetologischen Reflexionen angemessen zu beschreiben.

Auf ein allgemein medienästhetisch orientiertes Kapitel lässt sie zwei zur experimentellen Literatur folgen, die der Oulipo-Gruppe und George Perec gewidmet sind. Nach einem Kapitel über die Medienphilosophie von Vilem Flusser schließt die Beschäftigung mit Rainald Goetz die Arbeit ab.

Zu Beginn ihrer methodologischen Ausführungen über Perspektiven einer Medienästhetik der Literatur rekonstruiert Gropp mit Blick auf die Textwissenschaften die poststrukturalistischen und systemtheoretischen Diskurse, die an die Stelle eines traditionellen hermeneutischen Verstehens die Beschreibung der zeichenmateriellen Oberfläche gerückt haben. Die Betonung der Materialität der Zeichen führte in der kulturanthropologischen Erweiterung dieses Ansatzes konsequent zu einer "Integration des Körpers in den geisteswissenschaftlichen Diskurs." Als ästhetischer Begriff fasst Verkörperung das "Zusammenspiel von Aisthesis, Poiesis und Katharsis" und verknüpft die Reflexion des Medialen und des Performativen. Damit kommt noch der für den medialen Aspekt der Literatur konstitutive Aspekt der Performanz ins Spiel, so dass Gropp zu der Definition gelangt, Medienästhetik bezeichne die "selbstreflexiven, performativen und inszenatorischen Dimensionen medialer Prozesse."

Ihren Ausführungen über die Oulipo-Gruppe schickt Gropp ein paar einleitende Überlegungen über die Experimentalisierung von Schrift und Literatur voran, in denen sie besonders auf den spielerischen und auf den technischen Faktor dieser Schreibverfahren eingeht. Sie siedelt die Konzeptionen der experimentellen Literatur "im intermediären Feld von Wissenschaft, Technik und Kunst der fünfziger und sechziger Jahre" an und verweist etwa auf Max Bense und seine kybernetisch-informationstheoretische Ästhetik. Hier werde Literatur zum Bestandteil einer Experimentalkultur, der es darum gehe, dass "geregelte Verfahren zur Erzeugung von Erfahrung organisiert werden." Diese mathematisch-szientifische Ausrichtung der Dichtungstheorie demonstriert Gropp dann eingehend an der 1960 gegründeten Autorengruppe Oulipo, was für Ouvroir de littérature potentielle (Werkstatt für potentielle Literatur) steht. Diese französische Dichtervereinigung arbeitete systematisch an einer "Formalisierung der Literatur", die durch Mathematik, Kybernetik, Automaten- und Computertheorie geprägt ist. Damit repräsentiere Oulipo ein Denken, "das grundlegend für die Poetik der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist, auch für die sogenannte postmoderne Literatur."

Die Oulipo-Gruppe gehört in den größeren Kontext des Collège de Pataphysique, zu dem der Dichter Raymond Queneau das Bindeglied bildet. Die Idee der Pataphysik "führt reale und fiktive Disziplinen im Rahmen einer Wissenschaftsphantastik zusammen." Sie lässt Literatur zwischen Wissenschaft und Spiel oszillieren und fördert ihren experimentalkulturellen und performativen Aspekt. Als besonders repräsentativem Vertreter von Oulipo widmet Gropp sich dann George Perec und dessen Werk "La Vie mode d'emploi" (Das Leben Gebrauchsanweisung) von 1978. Er verleiht der Literatur eine medienanthropologische Wendung und begreift sie als Archiv und Gedächtnisspeicher.

Als Brücke zwischen der experimentellen Literatur und der Pop-Literatur dient laut Gropp die Medienphilosophie von Vilem Flusser. Den methodischen Ansatz von Flusser charakterisiert sie als Verknüpfung von kybernetischen, medientechnischen, phänomenologischen und ästhetischen Überlegungen. In den Mittelpunkt seiner so genannten Kommunikologie rücke er die Frage nach der Wirklichkeit generierenden Funktion der neuen Medien. Flusser diskutiert den Stellenwert der medial erzeugten Bilder im Kontext einer Theorie des Technoimaginären. Die besondere Leistung dieser Bildersprache erblickt er darin, dass sie sowohl als Realitätszugang als auch zur Realitätserzeugung diene. Flusser spricht in diesem Zusammenhang vom 'Komputieren'. Damit meint er ein Verfahren, das "Aspekte einer Philosophie des Geistes, der Kognitionswissenschaft und Medientheorie [...] zu einer Theorie digitaler Simulation bzw. computergestütztes Entwerfen von Realitäten und Ereignissen verknüpft." Das Komputieren bewege sich also im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Kunst, bilde eine mediale Praxis, die an wissenschaftlichen wie ästhetischen Techniken teilhat. Flusser betont die Verwandtschaft des Spielerischen und des Schöpferischen im Begriff der Poiesis und fasst das postmoderne Entwerfen von Erlebnismodellen als mediale Praxis des zeitgenössischen homo ludens, der den homo faber geschichtlich abgelöst habe. Gropp liest Flussers Medienphilosophie schließlich als adäquate Schrifttheorie, mittels derer die "Reflexion und Inszenierung der Transformationsprozesse linearer in netzartige Formen der Schrift" sich angemessen beschreiben ließe.

Diesen Transformationsprozess untersucht Gropp im darauf folgenden Kapitel über den Pop-Literaten Rainald Goetz eingehend. Als Ausgangspunkt für Goetz` Schreiben im Netz rekonstruiert Gropp die innovative Poetik von Rolf Dieter Brinkmann, die sie als medienästhetisches Experiment begreift, "Schrift als mediale Verkörperungspraxis im Rahmen einer physiologischen Ereignisästhetik zu inszenieren." Eine Schlüsselfunktion nimmt in Brinkmanns Poetik die Integration von Fotografie, Film und Pop-Musik in die literarische Praxis ein. An diese Verfahren knüpfe Goetz auf einem fortgeschrittenen medientechnologischen Niveau an und nutze die neuen Medien, um das Schreiben als präsentischen Akt einer permanenten Genese und Aufführung zu inszenieren.

Gropp argumentiert hier in der Nachfolge von Eckhard Schumachers Kennzeichnung der Pop-Literatur als Versuch, das Jetzt im Schreibprozess einzuholen, wie es bereits an Brinkmanns poetischer Schnappschuss-Technik abzulesen ist. Allerdings führt sie in der dezidierten medienästhetischen Perspektive über Schumacher hinaus. Diese Fokussierung des Blicks geschieht freilich um den Preis einer analytischen Annäherung an die Texte. Der Verzicht oder besser wohl: die bewusste Verabschiedung hermeneutischer und textanalytischer Verfahren macht die medienästhetische Diskursanalyse zu einem metasprachlichen Appendix der Oberflächenstruktur der Texte selbst. Es wird ein hoher terminologischer Aufwand getrieben, der manchmal an eine sich selbst reduplizierende und inszenierende Begriffsmaschine erinnert, sozusagen eine permanente Begriffs-Performance. Zuweilen stellt sich auch der Eindruck ein, dass die innovative Perspektive medienästhetischer Fragestellungen überschätzt wird. Wenn man etwa nur an die Bedeutung des Körpers denkt, die dieser seit je in der Kleist-Philologie eingenommen hat, wird man sagen müssen, dass es für die "Integration des Körpers in den geisteswissenschaftlichen Diskurs" nicht erst eines medienästhetischen Bewusstseins von der Materialität der Zeichen bedurfte. Überhaupt kommt einem zuweilen der Umgang mit den beschriebenen Theoriemodellen etwas zu unkritisch vor. So ließe sich an eine Theorie, die "geregelte Verfahren zur Erzeugung von Erfahrung organisier[en]" will, die vielleicht altmodisch klingende ideologiekritische Frage richten, ob hier nicht eine künstliche Welt des Simulacrum geschaffen werde, die die Subjekte ihrer Möglichkeiten authentischer ästhetischer Erfahrung beraubt. Das trifft auf den ganzen Komplex der Realität erzeugenden medialen Inszenierung zu, die Gropp allzu affirmativ allein im Zeichen des spielerischen Gewinns an kreativer Freiheit zu zeichnen scheint.

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Titelbild

Petra Gropp: Szenen der Schrift. Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945.
Transcript Verlag, Bielefeld 2006.
447 Seiten, 32,80 EUR.
ISBN-10: 3899424042

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