Frau Gardner oder vom Nachteil eines guten Gedächtnisses

Margaret Atwoods erster Lyrikband nach zehnjähriger Pause

Von Doris KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hätte Ava Gardner die Wahl gehabt zwischen einem Dasein als "vaginarosa" Magnolie oder der bekannt fleischlichen Form, so hätte sie sich allen Nachteilen zum Trotz stets für das Fleisch entschieden. Auch dann, wenn sie im Rückblick würde feststellen müssen, daß man sie im albernen Rüschenfummel niemals wirklich ernst genommen hat. Nun ist nicht sicher überliefert, ob und falls ja in welcher Aufmachung Frau Gardner wiedergeboren ward. Mutmaßungen darüber seien jedoch gestattet. Besonders dann, wenn Margaret Atwood sie anstellt und sie die Menschen, die Dinge und die Welt - rüschenlos - zum Inhalt haben.

Apropos Welt: Fände man einen Ort, hochoben, von dem aus die Welt als Ganzes zu betrachten wäre, die Oberfläche ausgebreitet wie eine Picknick-Decke, darunter Zeit-Etagen und Epochen, träfen wir dort auf diesem galaktischen Adlerhorst eine Frau: Margaret Atwood. Sie säße dort, konzentriert am Fernglas schraubend, ständig den Focus verändernd, den Blick mal scharf, mal weit gestellt, mit einem zerfledderten Heft und einem Stift und machte sich Notizen. Notizen über nackte Tänzerinnen, die in Wahrheit Philosophinnen sind, Notizen über brennende Eulen mit Engelsflügeln, Statuen, König Lear oder die Schönheit von Krebszellen. Verbürgt ist dieses Szenario zwar nicht, aber es muss so oder so ähnlich sein, denn anders lässt sich Atwoods Gedichtband "Ein Morgen im verbrannten Haus" nicht erklären.

Im ersten Lyrikband nach zehnjähriger Pause - 45 Gedichte in fünf Kapiteln - wirkt Atwood schonungsloser als früher, nüchterner noch. Einige ihrer Gedichte wirken sehr persönlich; sie erzählen von den Ernüchterungen nach der Zeit der Illusionen. Zentrale Themen sind Einsamkeit, Vergänglichkeit und Tod. Die Gedichte um den Tod des Vaters wie in "Langeweile" sind voller Zärtlichkeit und Wehmut und gewähren sowohl Einblick in eine liebevolle Vater-Tochter-Beziehung wie auch in ein kanadisches Leben zwischen Wäldern, Booten und Seen:

"Warum denke ich, dass es sonniger war damals, obwohl es meistens regnete [...] Jetzt würde ich mich nicht mehr langweilen. Jetzt wüsste ich zuviel. Jetzt wüsste ich".

Wie um Atem zu holen, Distanz zu schaffen zu den sehr persönlichen Texten hat sie in einigen Gedichten Bezüge zur klassischen Mythologie verarbeitet, wie etwa die Geschichte um Daphne in "Daphne und Laura und so weiter", die davon erzählt, wie Daphne von ihrem Vater Peneios zum Schutz vor dem verliebten Apollon in einen Lorbeer verwandelt wird:

"Er war es, der mich sah,

kurz bevor ich mich verwandelte,

bevor Rinde/Fell/Schnee mir den Mund

verschlossen, bevor meine Augen Knospen trieben".

Ganz menschlich freilich geht es bei Atwood weiter:

"Ich hätte keine Angst zeigen sollen,

oder nicht so viel Bein".

Im letzten Gedicht, das dem Band den Namen gab, wechselt der verblassende Rückblick auf das unwiederbringlich Verlorene mit der klaren Erinnerung an scheinbar Belangloses: eine Blechtasse, ein schmutziges T-Shirt, Füße auf verbrannten Dielen. Melancholisch ist dieser Blick zurück, aber nie sentimental. Er zieht sich durch beinahe alle Texte, in denen die Autorin eine desillusionierende Bilanz ihrer Lebenserfahrungen zu ziehen scheint; zwischen den Zeilen stets ein unausgeschriebenes "Was bleibt?" Als Fazit dieser Retrospektive mag ein Satz aus dem Gedicht "Besuch" gelten: "Das Gedächtnis ist kein Freund. Es sagt Dir nur, was du nicht länger hast". Atwoods bislang letzter Lyrikband "Ein Morgen im verbrannten Haus" ist schöner, wahrhaftiger und weiser als alles, was sie bislang in dieser Gattung vorgelegt hat.

Titelbild

Margaret Atwood: Ein Morgen im verbrannten Haus.
Berlin Verlag, Berlin 1996.
125 Seiten,
ISBN-10: 3827000114

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