Das Wunder wäre der Tod

Timothy Findleys neuer Roman eröffnet eine andere Sicht auf das Dasein Gesandte"

Von Steffi SchwabbauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffi Schwabbauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unsterblichkeit ist ein ewiges Thema der Menschheit. Aus Angst vor der Vergänglichkeit beschäftigen sich die Menschen mit der Überwindung des Todes. Der Glaube an die Unsterblichkeit findet sich in den meisten Religionen dieser Welt. Oft ist er verbunden mit Vorstellungen von Reinkarnation und Seelenwanderung. Dennoch werden Menschen, die behaupten, in einem früheren Leben eine andere Person oder auch irgendein Tier gewesen zu sein, als Spinner und Wichtigtuer abgetan, bestenfalls belächelt.

Was aber passiert, wenn jemand behauptet, er lebt schon immer? Und zwar nicht als ständige Wiedergeburt, die sich nicht oder nur vage an das vorige Leben erinnert, sondern immer als er selbst - nicht als Reinkarnation also, sondern als Inkarnation -, lediglich in verschiedenen Körpern? Dann hat er das Problem, seine Mitmenschen davon überzeugen zu müssen, dass er nicht verrückt ist. Ein schwieriges Unterfangen, besonders, wenn der Unsterbliche sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich zu sterben.

Genau dieses Problem hat Pilgrim. Er kann nicht sterben, auch wenn er es auf alle erdenklichen Arten versucht hat. Immer ist er zunächst erfolgreich, aber nach einigen Stunden beginnt sein Herz von neuem zu schlagen. Wieder ist er unter den Lebenden, was seinen Ärzten jedes Mal als ein rätselhaftes Wunder erscheinen muss. Das aber ist es in diesem Fall nicht, denn: "Der Tod wäre das Wunder. Nicht das Überleben."

So beginnt Timothy Findley seinen neuesten Roman "Der Gesandte" mit einem Selbstmordversuch. Es ist das Jahr 1912. Pilgrim erhängt sich, wird von zwei Medizinern für tot erklärt - und erwacht wiederum von den Toten. Nach diesem erneuten Fehlversuch fällt er in eine Depression. Seine Freundin, die Lady Quartermaine, bringt ihn nach Zürich in die Klinik Burghölzli, wo sich Doktor Carl Jung den interessanten Patienten sichert.

Pilgrim und Jung sind die beiden Hauptpersonen. Sie nehmen den größten Teil der Geschichte in Anspruch. Der eine will sterben, und weil ihm niemand den Grund dafür glauben kann, wird er für schizophren erklärt. Der andere möchte ihn von seinem vermeintlichen Wahnsinn heilen, um seine Behandlungsmethoden als richtig zu erweisen. Während Pilgrim eine fiktive Gestalt ist, basiert die Figur des Doktor Jung zum größten Teil auf der historischen Person des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung. Dieser war zunächst Anhänger Siegmund Freuds, begründete aber nach seiner Abkehr von dessen Lehre eine eigene Tiefenpsychologie, die analytische Psychologie. Darin erweiterte er den Freudschen Libidobegriff im Sinne einer generellen psychischen Triebdynamik, indem er neben das individuell erworbene "persönliche Unbewusste" das überindividuelle "kollektive Unbewusste" stellte. Das "kollektive Unbewusste" bestand, seiner Theorie zufolge, aus Prägungselementen, denen er eine wichtige Bedeutung im Individuationsprozess zuschrieb.

Aber Findleys Roman bleibt auch ohne Psychologiestudium ein attraktiver Lesestoff, wenn auch die Kenntnis der realen Person Jung hilfreich ist, weil Findley ihre Merkmale in großen Teilen übernimmt. Der rätselhafte Pilgrim erschließt sich dem ehrgeizigen Psychologen nicht. Auch als er, der manchmal selbst an der Grenze geistiger Normalität steht, dessen Tagebücher zu lesen bekommt, wehrt er sich, an das ewige Leben seines Patienten zu glauben. Zu unglaublich erscheinen ihm die Einträge. Pilgrim hat anscheinend alles erlebt: Die Belagerung Trojas durch die Griechen, das Leben eines behinderten Schafhirten, eine Freundschaft mit Oskar Wilde. Er kannte Leonardo da Vinci, Henry James und sogar die heilige Theresia von Avila. Einerseits versteht es Findley, diese Personen spannend in die Geschichte einzuflechten, andererseits macht die große Fülle an historischen Charakteren des Lesen zuweilen etwas mühsam, besonders dann, wenn es sich um weniger bekannte Persönlichkeiten handelt.

Findley hat neben seinen Hauptpersonen andere bemerkenswerte Figuren geschaffen, die, obwohl sie sehr viel weniger Raum bekommen als Pilgrim und Jung, einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Emma zum Beispiel, die Ehefrau, die der nicht nur in seiner Praxis egoistische Jung eigentlich gar nicht verdient hat. Sie unterstützt ihren Mann bei der Arbeit, nimmt ihm Recherchen ab und erkennt die psychischen Zustände seiner Patienten in der Regel ein wenig früher als ihr Mann. Ebenso sympathisch, aber doch viel mysteriöser ist die Lady Quartermaine. Sie ist Pilgrims Freundin und Wegbegleiterin, durch die Jung nicht nur an dessen Tagebücher herankommt. Sie ist so geheimnisvoll, dass auch sie ihm - und dem Leser - Rätsel aufgibt.

"Der Gesandte" ist ein von der ersten bis zur letzten Seite spannendes Buch. Es ist nie vorherzusehen, was als nächstes passiert. Der Leser geht auf eine Reise voller Geheimnisse und Überraschungen, die ihn mit Psychologie, Philosophie und Geschichte wunderbar unterhält, wenn er genug Einbildungskraft besitzt, sich auf diese fantastische Reise einzulassen. Nebenbei kann man wegen der großen Nähe zur realen Person Carl Jung auch noch etwas über diesen Psychoanalytiker erfahren. Nur das Ende des Romans ist nicht zufriedenstellend. Das aber könnte daran liegen, dass nach so einer Geschichte eine befriedigende Lösung nicht wirklich möglich ist. Sicherlich auch kritikwürdig, aber nicht in Findleys Hand, ist die Übersetzung des Originaltitels "Pilgrim" mit "Der Gesandte", die bis zum Schluß nicht plausibel wird.

Timothy Findley hat mit diesem Roman seinem Werk ein außergewöhnliches Stück Prosa hinzugefügt. Präzise, als führe er eine Kamera, schildert er Personen und Handlungsorte. Er verpackt seine Darstellungen dabei so geschickt in wunderbare Worte und Bilder, dass es dem Leser vorkommen muss, als stünde er inmitten der Szenerie. Nur ein Beispiel:

"Das Musikzimmer [...] hatte einundzwanzig Fenster. Sieben plus sieben plus sieben. Hoch und schmal. Hier wartete Jung um neun Uhr am selben Morgen, mit dem Rücken zur Tür. Der Schnee vor den Fenstern fiel, als würden die Wolken Groschen auszählen, riesige weiße Geistergroschen aus den Tagen, als die Geldstücke noch so groß waren wie Taschenuhren. [...] Zwei Uhren tickten, aber nicht im Takt. Kontrapunktisch. In einer Ecke stand ein Flügel, sein Deckel erwartungsvoll aufgeklappt. An der Wand lehnte ein verhülltes Cello, verzagt und verlassen. Auf drei goldenen Stühlen schmiegten sich, unsichtbar, drei Geigen in ihre Geigenkästen. Eine Schar von Notenständern drängte sich in der Ecke zusammen. Klatschbasen. Habt ihr gehört...? Wußtet ihr...? Zwei Flöten, eine Oboe, und eine Klarinette, ebenfalls in Kästen verstaut, lagen in einem Regal, und in dem Fach darunter stapelten sich säuberlich Noten von Bach und Mozart. Schumanns Klavierkonzert a-Moll stand aufrecht, mit dem Gesicht zur Wand. Ein Schemen in einer anderen Ecke, der an das eingedrückte Ohr eines Riesen denken ließ, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Harfe."

Diese Gabe, so wundervoll zu schreiben und beschreiben ist es wohl - neben den spannenden, geschickt angelegten Handlungsbögen -, die Timothy Findley zu einem der bekanntesten und beliebtesten kanadischen Schriftsteller gemacht hat. Er hat für seine Werke viele Auszeichnungen erhalten, darunter den "Governor General's Award for Fiction" und - schon drei Mal - den "Author's Association Award". Dabei hat Timothy Findley, der 1930 in Toronto geboren wurde, an ein Leben als Schriftsteller zunächst nicht gedacht. Die künstlerische Laufbahn aber sollte es auf jeden Fall sein. Er wurde Schauspieler in Kanada, nachdem er Tanz und später Theater studiert hatte, und war auf diesem Gebiet recht erfolgreich. Zwischen 1948 und 1962 wirkte er unter anderem am "Stratford Shakespearean Festival" mit und spielte in Thornton Wilders "The Matchmaker". Erst durch seine Freundschaft mit Ruth Gordon, dem Star in "The Matchmaker", und Thornton Wilder wurde Findley zum Schreiben angeregt. Sie konnten ihn nach der Veröffentlichung seiner ersten Kurzgeschichte "The Tamarack Review" davon überzeugen, dass seine Bestimmung das Schreiben ist. Die ersten Romane "The Last of the Crazy People (1967) und "The Butterfly Plague" (1969) allerdings schienen ihm eher das Gegenteil zu beweisen. Beide wurden von Kanadischen Verlegern ignoriert und zurückgewiesen.

Die Wende kam mit "The Wars". Hierfür erntete er großes Kritikerlob und erhielt den "Governor General's Award for Fiction". Der Roman war 1981 sogar die Grundlage für einen Film. Seitdem ging es für Findley auf der Erfolgsleiter nur noch aufwärts. Bis heute hat er sechs weitere Romane geschrieben, die allesamt in den Bestsellerlisten standen und ihm verschiedene Ehrungen einbrachten. Das veilseitige Werk Timothy Findleys beschränkt sich jedoch nicht nur auf Romane. Der Autor schreibt beispielsweise auch Kurzgeschichten, die inzwischen in drei Büchern erschienen sind: "Dinner Along Amazon" (1982), "Stones (1988) und "Dust to Dust" (1997).

Neben zahlreichen Drehbüchern für Film und Fernsehen hat Findley außerdem Dramen geschrieben. Ein Erinnerungsband "Inside Memory: Pages from a Writer's Workbook" ist 1990 ebenfalls erschienen. Allein im Schreiben erschöpft sich das Wirken Timothy Findleys aber noch nicht. Er war Vorsitzender der "Writer's Union of Canada" und Präsident des kanadischen PEN-Zentrums. Zudem setzt er sich in der Vereinigung "Artists Against Racism" für die Rechte von Minderheiten ein.

Titelbild

Timothy Findley: Der Gesandte. Aus dem Englischen von Sabine Roth und Walter Ahlers.
Claassen Verlag, München 2000.
672 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3546001958

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