Wenn alles ringsum Stille ist

Der neue Roman "Unverdächtig" von Tanguy Viel

Von Eckart LöhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eckart Löhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem bereits vier Romane des vierunddreißigjährigen, in Brest geborenen Autors auf Französisch erschienen sind, gibt uns der Wagenbach Verlag mit der deutschen Übersetzung von "Unverdächtig" jetzt endlich die Möglichkeit, diesen Schriftsteller auch hier kennen zu lernen. Für die hervorragende Übersetzung ist Hinrich Schmidt-Henkel verantwortlich, der sich spätestens mit seiner hoch gelobten Übertragung des Romans "Reise ans Ende der Nacht" von Louis Ferdinand Céline aus dem Französischen einen Namen gemacht hat.

Das schmale Bändchen ist allerdings weniger Roman als Erzählung, oder sogar mehr noch kommt es mutatis mutandis als Novelle im Sinne Goethes daher, als der Beschreibung einer unerhörten Begebenheit. Hier wird die Geschichte zweier ungleicher Paare erzählt. Auf der einen Seite das Liebespaar Sam und Lise, auf der anderen Henri und sein Bruder Edouard. Henri Delamare (von "de la mar" was "vom Meer" bedeutet und schon, wenngleich auch ironisch, das spätere Schicksal dieser Figur vorwegnimmt) ist ein reicher, Golf spielender und schlechte Witze erzählender Snob in den Fünfzigern und seines Zeichens Auktionskommissar. Zusammen mit seinem Bruder, der ebenfalls Auktionskommissar ist und von dem man darüber hinaus lediglich erfährt, dass er nie lacht und noch besser Golf spielt als Henri, führt er eine Firma.

Sam, ein gelangweilter, dem Medium Fernsehen verfallener Mensch, der mit seinem eigenen Leben nichts anzufangen weiß und Lise, eine Animierdame, deren Unnahbarkeit dazu führt, dass einer ihrer Freier, Henri, sich in sie verliebt und sie schließlich heiraten will. Um ihrem weitestgehend sinnentleerten, langweiligen und trostlosen Leben zu entkommen, erwächst aus dieser, für Lise vielleicht nicht ganz unerwarteten, Situation nun ein perfider Plan, der auf Grund eines kleinen Missgeschickes nicht zum gewünschten Resultat führt und die Geschichte in eine unerwartete Richtung lenkt. Wobei zwei Brüder - ein echter und ein falscher - die zentralen Rollen spielen.

Schon der Versuch, eine klare Figurenkonstellation zu konstruieren, schafft ein Problem, denn die beiden Seiten stehen sich nicht monolithisch oder ausschließlich konfliktiv gegenüber und sie lassen sich während der Lektüre immer weniger voneinander trennen, da sich die Handlungsverläufe der dargestellten Charaktere immer weiter ineinander verschränken und sich bald kaum noch sagen lässt wer zu wem gehört. Der Umschlag dieses Buches zeigt das Bild des mittlerweile in Meung-sur-Loire lebenden Schriftstellers, das an Fotos des jungen Albert Camus erinnert. Das schlägt möglicherweise eine - für das tiefere Verständnis des Textes notwendige - Brücke zur französischen Existenzphilosophie. So sind es denn auch drei zentrale Begriffe dieser Philosophie, die sich dem Lesenden bei der Lektüre gleichsam aufdrängen: Gleichgültigkeit, Langeweile und Ekel. Dazu kommen Einsamkeit und gegenseitige Entfremdung. Der auktoriale Ich-Erzähler Sam, der die damaligen Geschehnisse aus einer Distanz von zehn Jahren rückblickend berichtet, ist die profilierteste Figur in diesem sonst an solchen Figuren armen "Roman".

In seiner indifferenten und jede Verantwortung für das Geschehene ("Es war deine Idee, Lise") ablehnenden Art und nicht zuletzt durch seine distanzierte, stellenweise kühl-rationale, glasklare Sprache ("So stellte ich es mir vor, und ich glaube, es war aus Mitleid, dass ich ihm noch eine Kugel gab, sein entsetztes Gesicht flehte, dass ich das nicht tat, aber ich schwöre, ich wollte dir wirklich nur das Schlimmste ersparen,...") erinnert er in einigen Momenten an Meursault, den Protagonisten aus Camus` "Der Fremde".

Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass beide Erzählungen mit dem Topos Meer spielen. Dort ist es die algerische Mittelmeerküste, hier die französische Atlantikküste. Und auch das Motiv der Sonne - wir erinnern uns, dass es die Sonne war, die Meursault so blendete, dass er zum Mörder wurde) - taucht hier mehr als einmal auf. Bei Tanguy Viel ist es schließlich der Sonnenreflex auf einer Windschutzscheibe, der dem Mörder sein Opfer ankündigt. Die vier handelnden Charaktere, die in ihrer Verlorenheit auch einem Houellebecq-Roman entstammen könnten, zeigen im Verlauf der unerbittlich sich vollziehenden Handlung, dass sie sich nie wirklich nah waren. Der Bruder verrät seinen Bruder, wenn auch posthum, und der Freund verrät seine Geliebte (oder umgekehrt?). Der Rest sind zerbrochene Träume, Einsamkeit und Isolation und auch der Schluss des Buches hebt dieses düstere Bild nicht auf. Lediglich an einer Stelle - konfrontiert mit seiner Schuld - wird die Isolation Sams durchbrochen, wenn der Autor ihn sagen lässt: "Und in dem Moment vielleicht war mir, als würden die Dinge zu einem Sinn finden [...]. Ich hatte keine Angst, ich erlebte eine Art Einheit mit der Natur ringsum. [...] da habe ich dieses Einssein endlich begriffen, wenn alles ringsum Stille ist."

Da öffnet sich Sam "zum ersten mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt." (so hieß es bei Camus in "Der Fremde"). Vielleicht war das von Sam und Lise begangene Verbrechen, geboren aus dem Überdruss an der Welt, die Revolte gegen eben diese Welt, aber - um noch einmal Camus zu zitieren - "Nemesis wacht, die Göttin des Maßes, nicht der Rache. Alle, die die Grenzen überschreiten, werden von ihr unerbittlich gestraft."

Zweifellos spricht hier ein Autor mit einer eigenen, originellen Stimme, beeinflusst von Albert Camus, Marguerite Duras und Joseph Conrad, von Thomas Bernhard, Claude Simon und Alfred Hitchcock. Schade nur, dass es die wenigsten AutorInnen vermögen, erotische Szenen zu beschreiben, ohne in stumpfe Klischees zu verfallen,. So darf "die Zigarette danach" auch hier nicht fehlen, aber sei`s drum: neben Michel Houellebecq und Veronique Olmi ist Tanguy Viel ein noch junger und viel versprechender Autor aus Frankreich, der mit Sicherheit auch hier seine Leser finden wird.


Titelbild

Tanguy Viel: Unverdächtig.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007.
120 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132123

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