Das Vermächtnis im Korbkoffer

Timothy Findleys "Die Tochter des Klavierspielers"

Von Albrecht DriesenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Driesen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gestern noch war Charlie Kilworth bei ihr in der Psychiatrie gewesen und heute wurde er gerufen, um ihren Leichnam zu identifizieren. Sie war nicht an den Verbrennungen gestorben. "Der Rauch hatte sie getötet und der Entschluss, dies eine Mal nicht wegzulaufen." Ja, es war Lily, Charlies Mutter, die Tochter des Klavierspielers.

Nun sitzt Charlie vor dem Inhalt des Korbkoffers, vor all den Kleinoden, die Lily aus ihrer Kindheit herübergerettet hatte und den Erinnerungsstücken aus ihrem Leben als Erwachsene. Charlie kennt den Inhalt des Korbkoffers seit seiner Kindheit nur zu genau. Der Koffer hatte immer gepackt bereit gestanden, fertig zur Flucht. Traurig beginnt Charlie, Lilys Erinnerungsfotos wie zu einer Patience auszulegen, so wie Lily es immer gemacht hatte. "Wenn Lily die Bilder ihres Lebens ordnete, war sie geschickt wie eine Falschspielerin. Sie trickste dabei die Zeit weg, als hätte Zeit in ihrer persönlichen Chronologie nichts zu suchen." Und nun betrachtet Charlie das Vermächtnis seiner Mutter und lässt ihr Leben Revue passieren.

Lily war ein Kind der Liebe, dessen Vater, ein Handelsreisender in Klavieren, den alle nur den Pianomann nannten, tödlich verunglückte, noch bevor er ihre Mutter Ede heiraten konnte. Die ersten Jahre verbringt Lily mit ihrer Mutter auf dem Landsitz der Großeltern außerhalb Torontos, auf dem trotz der viktorianischen Enge im Kanada der Jahrhundertwende ein frischer Wind weht. Aber die Idylle trügt, denn im Alter von zwei Jahren stellen sich erste Anzeichen einer unheilbaren Krankheit ein. Epilepsie, mit Wahnsinn gepaart.

Phantasiebegabt entdeckt Lily schon früh die Faszination von Streichhölzern und ihre Affinität zu Feuer. Das Feuer spricht zu ihr mit menschlicher Stimme, und sie weiß, "dass es beides ist, ihr Freund und ihr Feind. Im Feuer sieht sie Gestalten, die ihr Zeichen geben und nach ihr rufen." Als die Phantasmen aber zunehmen und immer mehr über kindliche Phantasie hinaus gehen, fällt die Entscheidung immer schwerer, ob Lily mit einem besonderen Gesicht gesegnet oder schlicht verrückt ist. Und so ist Lily der Quell aller Freude ihrer Mutter, aber auch allen Kummers.

Da tritt plötzlich Frederick, der Bruder des Pianomanns in Edes Leben. Eine kurze Begegnung am Grab des Bruders hatte ihm genügend Antrieb gegeben, um innerhalb von sieben Jahren aus gesellschaftlich schwierigen Verhältnissen zum erfolgreichen Inhaber einer Klaviermanufaktur aufzusteigen. Nun will Frederick die Früchte seiner Arbeit ernten und hält um Edes Hand an. Als Ede einwilligt, weil sie in seinem Äußeren den verstorbenen Geliebten wieder zu erkennen glaubt, täuscht sie sich über Fredericks tyrannischen Charakter.

Frederick hat klar definierte Ziele: Geld, fachliche Kompetenz und Gesellschaftsfähigkeit. Als die Krankheit Lily während eines festlichen Diners vor allen Gästen überkommt, sieht er sich in der Erreichung seiner Ziele um Jahre zurückgeworfen, und Ede, der es an Durchsetzungskraft fehlt, versagt immer wieder bei dem Versuch, Lily vor Fredericks Gnadenlosigkeit zu beschützen. Nach diesem Vorfall wird Lily jedes Mal, wenn im Hause eine Gesellschaft stattfindet, unter unwürdigen Umständen auf dem Dachboden "verwahrt". Später befreit Frederick das Haus sogar endgültig von seinem "bösen Geist", indem er Lily in ein Internat exiliert, das sich seiner Erfolge bei "besonders schwierigen Fällen" rühmt.

Ab jetzt ist Lily für den Rest ihres Lebens auf sich selbst gestellt. Nach dem Abschluss der Schule und inzwischen selbst eine ledige Mutter sucht sie nach einem Weg, sich im Leben zurechtzufinden, unfähig, die Balance zwischen Genie und Behinderung herzustellen. "Jeder Moment ihres Lebens ist der Anfang von etwas Neuem, noch ehe das Vorangegangene zum Abschluss kommen konnte," und so geht das Leben an ihr vorüber, und ihre Liebe bleibt unerfüllt, weil der Tod ihr die am meisten geliebten Menschen stets vor der Zeit nimmt. Und mehr und mehr zeichnet sie sich durch eine charmante Überspanntheit aus.

Im Laufe ihres Lebens lassen die Symptome der Epilepsie im gleichen Maß nach, in dem ihr Lebenswille in Enttäuschung versickert. Die psychotischen Elemente der Krankheit bestimmen immer mehr ihre Persönlichkeit, was auf ihre Mitmenschen zunehmend beängstigend wirkt. Aber auch Lily verspürt Angst. Während Toronto sich Nacht für Nacht im Schlaf erholt, brennt in Lilys Kopf noch Licht, denn das Dunkel ist für sie ein Geisteszustand, dem sie vergeblich zu entrinnen hofft. Ihr achtjähriger Sohn Charlie muss sich hingegen mit einer Tapferkeit, wie nur ein Achtjähriger sie aufzubringen vermag, gegen die Eskalation der Psychose seiner Mutter stemmen. Charlie ist der Einzige, der Lily verteidigen kann, weil er der Einzige ist, für den das undurchsichtige Chaos in Lilys Innerem transparent wird.

Charlie, Klavierstimmer von Beruf, verfügt schon als Kind über das absolute Gehör für die Dissonanzen, die sich als Echos in den Abgründen von Lilys Psyche doppeln. Dennoch verliert er sie an den Wahnsinn und muss "mit dem vorlieb nehmen, was von ihr geblieben ist - Bruchstücke ohne Zusammenhang." Lily war angerissen worden wie ein Streichholz. Bei der Geburt "ein kurzes Ratschen und dann das hohle Sauggeräusch der nach Luft schnappenden Flamme" bis zum Tod. "Sie hatte keine andere Wahl als zu brennen."

Charlie empfindet nicht nur Trauer über den Tod seiner Mutter sondern genießt zugleich auch die Befreiung von einer emotionalen Belastung, die sein gesamtes bisheriges Leben bestimmt hat. In diesem Sinne ist seine Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Korbkoffers nicht nur der Versuch, sich von der bisher sein Leben bestimmenden Mutter zu emanzipieren, sondern auch die hieraus resultierenden Schuldgefühle zu verarbeiten.

Timothy Findley war zunächst fünfzehn Jahre lang ein erfolgreicher Schauspieler, bevor er sich 1967 dem Schreiben zuwandte. Er ließ sich durch anfänglich herbe Misserfolge nicht beirren und gilt heute als der kanadische Bestsellerautor schlechthin. Der Erfolg begann 1977, als sein dritter Roman, "Der Krieg und die Kröte", ihm nicht nur Vergleiche mit Hemingway und Remarque, sondern auch den in Kanada sehr begehrten Governor General's Literary Award einbrachte. Inzwischen wurde er mit allen wesentlichen kanadischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Hierzulande ist Findley jedoch bisher noch nicht in einer seinem Rang entsprechenden Weise wahrgenommen worden. So musste Findleys erst seit 1998 in deutscher Sprache vorliegender Roman "Die Tochter des Klavierspielers", zunächst eineinhalb Jahre lang die kanadischen Bestsellerlisten anführen, bevor sich ein Verlag für die deutsche Übersetzung fand. Und dies ist umso weniger zu verstehen, als das Buch von der internationalen Literaturkritik immer wieder als Meisterwerk gelobt worden ist.

Das Buch ist eine sentimentale, beinahe melancholische Familiensaga über vier Generationen, in der auf jeder Seite Wehmut über die verlorene Jugend und Sehnsucht nach Erfüllung unstillbarer Liebe mitschwingt. Mit der "Tochter des Klavierspielers" könnte es Findley diesmal gelingen, sich auch in Deutschland Gehör zu verschaffen.

Titelbild

Timothy Findley: Die Tochter des Klavierspielers. Aus dem Englischen von Sabine Roth.
Claassen Verlag, München 1998.
493 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3546001486

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