Über die Zweifel an der eigenen Existenz

Nagel schreibt über die Spannung zwischen der Normalität und dem Leben in einer Musikkapelle

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nagel - und sein Alter Ego im Roman - spielt Gitarre in einer Musikkapelle. Nagel singt auch in dieser Gruppe. Und er schreibt die meisten Lieder für die Punk-Band. Die meiste Zeit des Jahres ist er mit der Formation auf Tournee. Dazwischen wieder zu Hause, in seinem Zuhause, in einer richtigen Wohnung - und nicht jeden Abend in einem anderen Hotel, in einem anderen Bett. Was von diesem Leben ist Normalität, was ist der Ausnahmezustand? Warum macht man, was man macht - und wieso ist man, wer man ist? Diese grundlegenden Fragen stellt der Roman von Nagel. Er stellt sie dem Leser und Nagel stellt sie sich selbst. Oder sollte nur der "normale" Alltag einer Band auf Konzerttournee beschrieben werden? Existenzialistische Fragen kann man schwierig und kompliziert formulieren. Aber es geht auch anders. Der gewählte Kontext ist der Erfahrungshorizont einer Rockband. Ihre grundlegenden Fragen gehen allerdings alle an.

Die Handlung des Romans setzt sich aus zwei ineinander verzahnten Strängen zusammen. Einerseits wird eine mehrwöchige Konzerttournee beschrieben, andererseits liefern Rückblenden - die typografisch abgesetzt sind - die Vorgeschichte des Protagonisten: "Ich glaube nicht mal, dass ich ohne das Auftauchen von Punkrock in meinem Leben und ein paar aneinandergereihten Zufällen jetzt überhaupt hier säße. Ich wäre ohne Punk gewiss kein anderer Mensch, und die Liebe zur Musik hatte ich auch schon lange vorher in mir entdeckt. Aber ob ich so einfach dazu gekommen wäre, selbst Musik zu machen? Ob ich mich überhaupt getraut hätte?"

Dabei sind es einerseits die lakonischen Schilderungen des Alltags in der Ausnahmesituation - der Tournee - und gleichzeitig die Ausnahmesituationen im Alltag - in der Nicht-Rockstar-Zeit -, die eine merkwürdige Verkehrung des Verhältnisses von Normalität und Ausnahmezustand beschreiben. Die daraus entstehenden Verschiebungen in der Wahrnehmung von Realität spiegeln sich in den emotionalen Befindlichkeiten des Protagonisten. Dass dieser dabei immer gelassen bleiben kann, verdankt er vor allem der Liebe zu dem, was er macht: zur Musik. Hier ist denn auch der zentrale Punkt, der immer wieder zur Selbstreflexion Anlass gibt - für die Romanfigur ebenso wie für den Autor: "Man entdeckt so viel wieder. Ich finde es beruhigend, dass andere Bands dieselben Probleme haben wie wir, dass sie streiten, sich anzicken, aneinander vorbeireden, schmollen und Tage haben, an denen alles, was sie spielen, scheiße klingt, an denen alles, was sie tun, sinnlos erscheint. Es ist inspirierend, anderen beim Scheitern, Zweifeln und trotzdem Weitermachen zuzusehen."

Die Zwiespältigkeit der Existenz, das Zurückgeworfen sein auf die eigenen Möglichkeiten und die Verlorenheit dem eigenen Ich gegenüber kulminiert in der kurzen Beschreibung eines Tagesablaufs, der nach der Ausnahmesituation "Tournee" in den eigenen vier Wänden plötzlich aus dem nichts auftaucht: "Ich hänge die Wäsche auf. Ich setze mich vor den Computer. Keine neuen Mails. Ich sitze herum und weiß nicht, was ich tun soll. Ich rede mit meinem Teddybären. Seit Tagen freue ich mich auf mein Zimmer, aufs Alleinsein, auf Ruhe. Und nun? Nach zwei Stunden fällt mir schon die Decke auf den Kopf. Ich überlege, ob ich irgendwen anrufen soll, um mich irgendwo zu verabreden. Aber ich weiß nicht, wen."

Normalität muss immer genau so "gewonnen" werden, wie für die "normalen" Menschen die Ausnahmesituation. Sehr hilfreich ist dabei die kritische und reflektierte Einstellung des Protagonisten zu seinem eigenen Handeln: "Ich erinnere mich daran, dass man sich von Zeit zu Zeit selbst daran erinnern muss, wofür man überhaupt unterwegs ist. Oder gegenseitig. Um den Trott zu vermeiden. Die Routine. Die Arschlosigkeit. Am Ball bleiben. Hunger. Wut. Leidenschaft. Solange ich Musik mache, werde ich nie vollständig zur Ruhe kommen. Es gibt keinen Punkt, an dem ich mich zurücklehnen und auf meinen Lorbeeren ausruhen darf. Das funktioniert nicht, zumindest nicht bei der Art von Musik, die wir machen. Ich muss mich selbst im Blick behalten. Ich will kein lahmer alter Sack sein."

Diese Anschauung werden - mutantis mutandis - die meisten Leser wohl teilen können, wenn sie denn bewusst ihre eigene Lebenssituation reflektieren können. Nagel schafft in der Kombination von lakonischer Beschreibung, korrespondierenden Situationen von Ausnahmesituation und Normalität in den geschickt collagierten und auf der Metaebene miteinander verknüpften Erzählsträngen einen Text, der sich weit über die "Handlung" des Romans hinaus erhebt und zu einem spiegelverkehrten, vermeintlich allgemeingültigen Modell für das Leben der Dreißigjährigen und Mitdreißiger avanciert. Es ist kein "Jedermann", der hier seine Lebensmaximen und Existenzbedingungen exemplifiziert, aber es ist ein ähnliches Modell, wie es Katharina Hacker in "Die Habnichtse" (siehe Literaturkritik.de 10/2006) von einer Generation entwirft, die eigentlich alle Möglichkeiten hat. Hier werden diese Möglichkeiten aus einer anderen Perspektive gezeigt. Dass das Referenzsystem aber ähnlich, wenn nicht sogar identisch ist, darauf verweisen die Sehnsüchte der Figuren - liebenswerte, verständliche Sehnsüchte des Individuums in der Popkultur: "Und hier ist noch so ein Fashionblatt. Ein ganzseitiges Foto von Scarlett Johansson. Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich reiße es raus. Muss mir nachher irgendwo Schere und Prittstift besorgen, um es in mein Tagebuch zu kleben. Mein Gott, Scarlett. Warum bist du nie da, wenn ich dich brauche."

Nagel hat ein großartiges, unterhaltsames, lustiges und manchmal melancholisches Buch geschrieben, aus dem die Liebe zur Musik und die Empathie des Autors für seine Figuren spricht. Das sind gute Voraussetzungen für gute Literatur. Respekt!


Titelbild

Nagel: Wo die wilden Maden graben.
Ventil Verlag, Mainz 2007.
236 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783931555801

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