Mary unterhält sich mit der Jungfrau Maria

Keith Ridgway erzählt in "Normalzeit" skurrile, realistische Geschichten von Getriebenen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichten aus Irland? Da weiß man doch schon, was einen erwartet: die Schilderung einer harten Kindheit und Jugend, viel Alkohol und die heilige Mutter Kirche - das Klischee wird eben manchmal doch wirklich wahr.

Nicht so bei Keith Ridgway. In seinem Erzählungsband "Normalzeit" ist gar nichts normal. Acht Episoden erzählt er uns, lässt sie uns von einem Protagonisten erzählen, der oft selbst gar nicht weiß, was er tut, was er macht, was er soll. Der so wenig mit sich klarkommt, dass er oft ziemlich hilflos ist.

Wie Robert, der auf der Straße sitzt und auf seinen deutschen Freund Karl wartet, den er besucht hat und mit dem er sich fürchterlich gestritten hat, sich eigentlich immer streitet. Jetzt wartet er darauf, dass Karl seine Wäsche zur Wäscherei bringt, damit er ihn noch einmal überraschen kann, damit er ihn ansprechen kann. Robert mag den Klang der deutschen Sprache nicht. Dennoch wird er mit ihm konfrontiert und kann ihm nicht ausweichen: Zwei Skinheads kommen auf ihn zu und fragen ihn etwas. Natürlich hat er Angst, aber er bleibt starr sitzen, und die Gefahr geht vorbei. Etwas später, als er sich mit Karl fast wieder versöhnt hat, fragt er: "Was bedeutet 'Get ess inen gut'?"

Oder Mary Cleary, die ständig von der Jungfrau Maria träumt, so realistisch, dass sie mit ihr richtige Unterhaltungen führt. Als sie das einmal ihrem Pfarrer beichtet, weil sie nicht mehr weiß, was sie tun soll, ist die Jungfrau sauer, weil ihr Sohn davon erfahren hat: ihr Sohn Jesus, dem der Pfarrer das erzählt hat, in seiner Beichte. Natürlich versteht der Pfarrer sie nicht und glaubt ihr auch nicht, wie sollte er auch.

Viele von Ridgways Geschichten bleiben seltsam geheimnisvoll. Ein Vater erzählt, wie er seinen Sohn fast ertrinken ließ; ein Mann erzählt von seinem ehemaligen Geliebten, der plötzlich verschwand; ein Mann, den niemand kennt, macht den hippen Jugendlichen von Dublin Angst; der Ehemann einer krebskranken Frau weiß nicht, was er tun soll. Es sind skurrile Geschichten mit ganz und gar realistischen Charakteren. Es sind Menschen wie du und ich, die von etwas getrieben werden, das sie selbst gar nicht verstehen. Nur wir Leser können, weil wir sie ein wenig mehr von außen sehen, doch etwas tiefer blicken, die Verstrickungen lösen oder wenigstens ein bisschen aufdröseln.

Vieles deutet Ridgway nur an, nichts führt er detailliert aus. Aber statt dass die Figuren dadurch blass werden, werden sie vieldeutiger und schillernder, ihr Leben zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wahn und Erleuchtung wird realistischer und vielgestaltiger, kurz: normaler und lebendiger. Immer erzählen sie selbst ihre Geschichten, und das lässt sie umso seltsamer erscheinen. Wie der Vater, der seinen Sohn mit einem Stein niedergestreckt hat und dann erzählt: "Ich zog verschiedene Optionen in Erwägung, zunächst diejenige, die auf der Hand zu liegen schien - dass auf meinen Sohn geschossen worden war [...] Die zweite Theorie, eine zumindest gedanklich weit weniger wahrscheinliche, war die, dass mein Sohn mit dem Kopf gegen irgend etwas gedonnert war. Das passiert ihm ständig...".

Manchmal erinnert die spröde Erzählhaltung von Ridgway an A.L. Kennedy. Wie sie versteht auch er es, die Abgründe im Menschen so sparsam anzudeuten, dass sie nur umso schärfer zutage treten: Es ist ein Paradox, das in den Büchern besser funktioniert als im Leben. Denn er deutet so geschickt an, dass in manchem Nebensatz ein ganzes Leben, eine Obsession, ein Unglück aufblitzt. Und in diesem Unglück, das es nur zu erkennen gilt, auch das versprochene Glück.


Titelbild

Keith Ridgway: Normalzeit. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Jürgen Schneider.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007.
240 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-13: 9783803132093

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