Was ist Kino?

Ein Tagungsband untersucht die Beziehungen zwischen "Bildtheorie und Film"

Von Florian FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die heutige Zelebrierung oder nostalgische Heraufbeschwörung des Bildes fordert die Spur des Dinges, die nackte Identität seines Andersseins anstelle seiner Nachahmung, die Materialität ohne Satz und Sinn des Sichtbaren anstelle der Figuren eines Diskurses: eine immanente Transzendenz, eine glorreiche Essenz des Bildes, die durch die Art seiner materiellen Herstellung garantiert wird." (Jacques Rancière)

Einer großen interdisziplinären und internationalen Konferenz zur "Bildtheorie des Films", die vom 2. bis 4. März 2004 in Mainz stattfand und unter anderem von der Thyssen-Stiftung und dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung gefördert wurde, folgte 2006 der Band "Bildtheorie und Film". Der Unterschied zwischen dem Thema der Tagung und dem Buchtitel ist signifikant. Nicht mehr ist die Rede von einer "Bildtheorie des Films", vielmehr werden mögliche Beziehungen der Bildwissenschaft(en) mit dem Kino fokussiert beziehungsweise das Verhältnis von Kunst- und Filmwissenschaft. Herausgeber und Veranstalter sind der Kunstwissenschaftler Thomas Meder und der jüngst emeritierte Filmwissenschaftler Thomas Koebner, einer der Gründer des renommierten Mainzer filmwissenschaftlichen Instituts.

Ziel war, jenseits eines apokalyptischen Bilderdiskurses und jenseits von "schnellfertige(n) Zeitdiagnosen", "interdisziplinäre Bildbetrachtung" zu betreiben, "Brücken" zwischen den Disziplinen zu bauen (Koebner / Meder).

Als gemeinsamen Nenner machen Koebner und Meder in ihrem Vorwort die Einsicht aus, dass die Kameraeinstellung eine unbefriedigende "Leitgröße" für die Analyse der Filmbilder sei. Vielmehr müsse der "Bildwandel" (auch als Kritik am "Bewegungsbild" von Deleuze gemeint) gedacht werden, der berücksichtige, "dass in jedem Bild auch vorangegangene Bilder aufgehoben und noch gegenwärtig sind" und "dass höhere syntaktische Gebilde als die Einstellung [...] erst eine ko-existente Bildgestalt hervorbringen". Außerdem propagieren die Herausgeber die Ablehnung "einer übergreifenden Metatheorie des Piktorialen". Die neuerliche, intensive Beschäftigung mit dem Bild - in Form der postulierten "Bildwissenschaft" - ist nicht zuletzt eine Abkehr von semiotischen Modellen, die die Diskussion lange bestimmt haben. Dem entspricht auch die Vorgabe der Herausgeber, sich an "kleine Theorien mit begrenzter Reichweite" zu halten. Viele der über 30 Beiträge gehören zu dieser pragmatisch-deskriptiven Richtung.

Zum Ausdruck kommt das zum Beispiel in dem von Karl Prümm geforderten Paradigmenwechsel von der Mise en scène zur Mise en image. Ihm geht es um eine Zentrierung der Filmanalyse um die Arbeit der Kamera, die konkrete Bilderproduktion jenseits der narrativen Verkettung, die eine neue Filmhistoriografie ermöglichen soll: eine "noch nicht geschriebene Filmgeschichte [...] der Bildtechniken und der Bildformen." Viele Beiträge - auch wenn ein breites Spektrum anderer Positionen ebenfalls vertreten sind - tragen dem Rechnung, so etwa Thomas Rothschilds Aufsatz zur "Langen Einstellung", Fabienne Liptays Überlegungen zur "Leerstelle", Claudia Schmölders Analyse der "Großaufnahme" und Christine N. Brinckmanns Versuch, den Konventionen der "Farbgebung" nachzuspüren. Carlos Bustamante beschäftigt sich gar mit der legendären Bolex-Kamera und ihrer Beziehung zur amerikanischen Avantgarde. Die interpretierende Analyse einzelner filmspezifischer Bildgestaltungsverfahren könnte Bausteine zu einer solchen "Subgeschichte" (Prümm) des Kinos liefern.

Interessant sind die Ausführungen Thomas Meders zu "Ikonographie - Ikonik - Formgespür." Mit Didi-Huberman und Werner Hofman setzt er sich von Panofsky ab, der - so Hofmann - "eine integrale, widerspruchsfreie Deutungseinheit" suggeriere, die ein Bild auf plastische Weise eindeutig mache, der wahren Komplexität und Mehrschichtigkeit der Bilder somit aber nicht gerecht werde. Demgegenüber fordert Meder Sensibilität für einen "Mehrfachsinn des filmischen Bildes".

David Bordwell und der neoformalistischen Schule insgesamt - die immer wieder die Kunstgeschichte heranziehen; so Bordwell in seinem neuen Buch "The Way Hollywood Tells It - Story an Style in Modern Movies", wo er mit Wölfflin Parallelen zwischen dem Manierismus und dem heutigen Kino zieht - wird von Meder vorgeworfen, zu eng an einer "historischen Poetik" zu "kleben" und den Zuschauer nicht historisch zu denken. Daher sein Vorschlag, einen "historisch determinierten Zuschauer" auf ein "historisch determiniertes Artefakt" blicken zu lassen - was die Vielzahl möglicher Interpretationen zwar einschränke, gleichzeitig aber weiterhin anerkenne, dass es mehrere Interpretationen eines Bildes gibt beziehungsweise geben kann. Meder geht es um eine "Kunstwissenschaft des Films", die den historischen Zuschauer denkt und zu der "visuellen Politik" eines Films vordringt, die auch die "überzeugendste Studie zu seiner Genese" nicht fassen könne. "Dieses neue Bild [des Kinos] spricht [qua Erzählung] und wird doch von der Gestaltung seiner selbst sofort wieder übertroffen. Diesen Mechanismus gilt es zu entschlüsseln." Man könnte sagen, es produziert notwendigerweise einen "ästhetischen Überschuss" (Serge Daney). Das trifft sich mit den Einsichten Prümms. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis Meders auf den Kunsthistoriker Max Raphael. In dessen Bildanalysen geht es nicht zuletzt um den spezifischen Gebrauch, der von einem gestalterischen Mittel - etwa der "Farbe Schwarz" - gemacht wird. Die Texte Raphaels sind voller Hinweise gerade für eine "Bildwissenschaft", für die weniger Theoriebildung interessant ist, als vielmehr die Interpretation bestimmter Werke. In den besten Beiträgen des Bandes - insbesondere die Überlegungen Horst Bredekamps zu "Erwin Panofsky zwischen Rudolf Arnheim und Walter Benjamin" und Thomas Elsaessers Beobachtungen zu den "Close-ups" bei Hitchcock und Fritz Lang - herrscht ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Theorie und Empirie.

Solange Interdisziplinarität gefordert wird, gibt es sie noch nicht. Die in dem vorliegenden Band zusammengefassten Ansätze repräsentieren zwar den aktuellen Stand interdisziplinärer Bildforschung, die Positionen sind allerdings so verschieden, dass die erhoffte Annäherung zum jetzigen Zeitpunkt noch schwierig erscheint. Voraussetzung dafür wäre, echte Gesprächsangebote zu machen und andererseits besser hinzuhören. Viele der konkreten Bild- oder Filmanalysen eröffneten keine neue Perspektive auf eine Bildtheorie des Films.

Überlagerte früher häufig die kategoriale Betrachtung die konkrete Anschauung, so könnte - und das gilt für Film, Medien- und Kunstgeschichte gleichermaßen - heute das Problem eher darin bestehen, dass zu wenig vom konkreten Einzelfall abstrahiert wird. So richtig es ist, die sinnliche Präsenz des Bildes zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu machen und die Grenzen begrifflicher Bildbeschreibung zu reflektieren, so droht eine theoretische (Un-)Bescheidenheit, die sich in Details verliert und die pointierte These scheut.


Titelbild

Thomas Koebner / Thomas Meder (Hg.): Bildtheorie und Film.
Herausgegeben von Thomas Koebner und Thomas Meder in Verbindung mit Fabienne Liptay.
edition text & kritik, München 2006.
628 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3883778028

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