Sailor Moons zerrissenes Seelchen

Jagoda Marinics kurioser Sehnsuchtsroman "Die Namenlose"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn ich morgens aufwache, sehe ich, wie der Wind in den schneeweißen Vorhängen von meinem Fenster spielt. Die Kuckucksuhr schlägt und sagt mir, dass es sieben Uhr ist. Und ich höre schon wie Mama ruft: 'Steh auf, oder du kommst zu spät zur Schule!' Noch im Halbschlaf antworte ich ihr: 'Lass... lass mich bitte noch drei Minuten schlafen!' Jeden Tag komme ich zu spät zur Schule, und die Lehrerin schickt mich zur Strafe aus dem Klassenzimmer. Ich bekomme sehr schlechte Noten. Nach der Schule gehen wir noch ins Café. Ich sehe mir die neuesten Partykleider in den Schaufenster der Modehäuser an. Und all diese kleinen Dinge machen mich wirklich glücklich. Ich würde dieses ganz normale Leben gern noch einmal leben. So gern."

Zugegeben: Sprachlich ist überhaupt nichts los bei Jagoda Marinic. Sie ist im allerbesten Alter für einen Debütroman - 1977 in Waiblingen geboren, Studium in Heidelberg (Germanistik, Anglistik, Politologie), 2001 und 2005 zwei Erzählbände bei Suhrkamp, 2007 ein Auftritt in Klagenfurt; und dennoch klingen ihre Bücher seltsam. Seltsam fremd, seltsam ungelenk; ganz so, als hätte die junge Autorin alle literarischen Moden und Manierismen, Diskurse und Debatten der letzten Jahre verpennt. Mit "Gegenwartsliteratur" haben Jagoda Marinics zauberische Texte wenig gemein.

Ihre beiden Erzählbände handelten von schwarzgekleideten Witwen, die an der Mittelmeerküste stehen und gen Horizont starren. Von mysteriösen Mädchen, die in geheimen Erkerzimmern ein stilles Schicksal beweinen. Jagoda Marinic, das heißt einerseits: romantische, sehr private Miniaturen, oft aus der Perspektive einer schmachtenden, alterslosen Ich-Erzählerin. Und andererseits: anachronistische, fein gestickte Parabeln und Gleichnisse, mit Titeln wie "Der nie entladene Karren und das nie bestellte Feld". "Die einzigen Weiten, die wir uns vorstellen können", schrieb Marinic 2005 in "Russische Bücher", einer Kindheitserzählung über Kroatien, "verdanken wir russischen Büchern. Man hat uns frühzeitig bekannt gemacht mit diesen dicken Wälzern; wir durften sie lesen, lange, bevor wir darüber nachdenken konnten, was sie uns sagen wollen; wir durften durch die Figuren leben, mehr verlangte keiner."

Bücher über Menschen, die nur leben können durch andere Menschen, durch Menschen aus Büchern. Eine staubige Sprache, die ganz selbstvergessen mit Begriffen hantiert wie "Seele" und "Sehnsucht" und die allergrößten Gefühle schamlos auf den Punkt bringt. "Russische" Bücher eben, ganz genau! Manchmal ist das so zartmelancholisch und klug wie Tschechow. Manchmal so hysterisch und dumpf wie Dostojewski. Nur an Tolstoi kommt Jagoda Marinic nicht ran. Dazu fehlen ihr Altersweisheit und Plastizität; dazu ist es dann doch zu oft die "ein kleines, verliebtes Mädchen jammert und klagt"-Perspektive.

Trotzdem spannend! Denn auch jetzt, in Marinics Debütroman "Die Namenlose", erzählt die Ich-Erzählerin von ihren täglichen Gängen zum Asia-Imbiss wieder in einer Schwulst-Sprache, als liefe sie durch Weltliteratur. Bedeutungsschwanger, zeremoniell, in übergroßen Worten, Anna Karenina auf dem Weg zum Bahnhof; Anna Karenina, nachdem sie "Anna Karenina" gelesen hat. Ganz außer sich über Grandeur und Tragweite all ihrer Schritte. "Ich habe seit langem aufgehört zu lesen", erzählt sie, "damit ich nicht darauf warte, dass etwas geschieht, was in Büchern geschieht, und vor allem: wie es in Büchern geschieht."

Sie lügt. "Die Namenlose" ist ein Buch über Menschen, die genau so leben (und lieben) wollen wie die Menschen in den Büchern. Die sich ihr Leben erzählen, als sei es eine Geschichte. Und die dabei sehr wunderliche Vorstellungen entwickelt haben von Poesie und Alltag, von Liebe und Erwartung. Eine private Psycho-Poetologie, in der sich Schreiben und Leiden und Leben und Lesen existentiell verdichten: "Jetzt werden wir gleich etwas sagen müssen, und alles, was wir sagen können, wird wieder so banal sein, dass diese Geschichte der Welt doch nichts bedeutet, warum gibt es kein richtiges Wort, warum gehen einem immer im Erleben die Worte aus?"

Die Handlung? Für sich genommen recht müde. Eine junge Frau hat vor Jahren dem psychisch kranken Vater und der Alkoholikermutter den Rücken gekehrt. Sie lebt als Bibliothekarin in Berlin und grummelt misanthropen Flaneurquatsch vor sich hin, allein, pragmatisch, leergekämpft: "Regen. Deutscher Regen. Grau. Berliner Grau." Die Klagenfurter Jury schimpfte das - zurecht - als leblos und flach. Sieben Alltagskapiteln dieses Stils (in denen sich, klar, eine zarte Liebesgeschichte entspinnt) sind sieben nächtliche Monologe entgegengestellt, Monologe einer inneren Beobachterin, von der die Protagonistin nichts weiß; auch gar nichts wissen will. "Ich bin ihre Geschichte", erklärt diese Beobachterin, "Ich schleiche mich durch die Fußnoten ihres Lebens. Diese Woche wird sie von Schlaflosigkeit heimgesucht. Auf diese Gelegenheit habe ich gewartet. Entweder wird die Namenlose diese Woche ihre Geschichte finden, oder mich für immer in ihre Abgründe sperren - und der Welt ginge eine ganze Geschichte verloren."

Holla! Eine rammdösige graue Maus mit schizoid externalisiertem internen Befindlichkeits-Beobachterauge, das die Synthese dunkler Seelenkrümel mit schlimmsten Kitschparolen postuliert. "Den Schmerz in die Welt tragen, damit er sichtbar wird. Den Schmerz sichtbar machen, damit er erkennbar wird. Den Schmerz erkennbar machen, damit er vergehen kann." Marinic sucht neue, intelligente Metaphern für "die Schwierigkeit, sich auf die Liebe, das Leben und auf die eigene Geschichte einzulassen." (Klappentext) Sie findet komplexe rosafarbene Bildwelten, Motive wie bei Michael Ende, Konstellationen wie aus "Sailor Moon". Die einfachsten, schönsten, die supergrößten Sehnsuchtssätze und den allerschlimmsten Sprachschund, "es ist zittrig in mir; wie der Flügelschlag eines festgehaltenen Schmetterlings zittert mein Herz und bringt meinen Verstand ins Wanken. Was soll ich fühlen? Was?"

Avantgarde? Nein, viel zu sentimental! Außenseiterprosa? Nein, viel zu warmherzig! Ein psychologischer Roman? Zu bildreich, zu schnörkelig! Deshalb: Lektüre auf eigene Gefahr! Marinic weckt auf jeder Seite tausend Widerspruchsimpulse, schlafwandelt über abgegraste (Wort-)Felder und fabuliert dabei ehrlich, krude, tief und grell, ganz anders als alle anderen. "Jenen Menschen, die lieber empfinden als denken", zitiert sie im Vorsatz eine alte Widmung E.A. Poes und trifft es damit doch nur zur Hälfte. Denn "Die Namenlose" ist keine Nur-Gefühls-Literatur. Sondern Gefühls-Analyse-Literatur. Hochreflexive Empfindsamkeitsmonologe, stellenweise superpeinlich. Und trotzdem immer sympathisch ohne Ende! Wer immer lamentiert, jungen Autoren fehle es an Eigenem, sollte Marinics hochspannenden Roman unbedingt (zumindest an-)lesen!

"Sie beharrt darauf: Lieben gehört nicht in diese Welt. Liebe heißt Endlichkeit. Sie will das nicht. Sie will kein Ende mehr. Sie sagt, in ihrem Leben habe schon genug geendet. Doch ich würde, wenn ich wollte, wieder lieben wollen wie eine, die noch nie lieben konnte. Wenn sie mich ließe, ginge ich durch die Straßen und würde rückhaltlos lieben, wenn auch nur für einen Moment. Selbst wenn dieser Moment mich zerschmettern würde und ich alle meine inneren Organe neu ordnen und beleben müsste: Ich würde alles auf diese eine Karte setzen."

[Der einleitende Monolog dieser Rezension stammt aus Episode 46 der Zeichentrickserie "Sailor Moon - das Mädchen mit den Zauberkräften" (Japan, 1993). Der abschließende Monolog dieser Rezension nicht.]


Titelbild

Jagoda Marinic: Die Namenlose.
Nagel & Kimche Verlag, München 2007.
154 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783312003983

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