Schreiben - aber mit Muße

Edoardo Costadura beobachtet den "Edelmann am Schreibpult"

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch führt zurück in jene längst vergangenen Zeiten, als zu den Trägern einer gemeineuropäischen Kultur der Adel gehörte. Verdunkelt nicht zuletzt durch die Urteile und Vorurteile des aufklärerischen 18. Jahrhunderts, ist die aristokratische Tradition der Muße und Verschwendung, des künstlerischen Dilettantismus längst einer nutzen- und leistungsorientierten Bürgerlichkeit gewichen, die gerade eben wieder einmal Hochkonjunktur hat. Spätestens seit Norbert Elias werden die dem Adel angeblich noch verbleibenden repräsentativen Funktionen mit den Höfen der absolutistischen Herrscher verknüpft, vor allem mit Versailles. Edoardo Costadura hingegen erzählt von schreibenden Adeligen, deren soziale und geografische Orte er zwischen Hof und Stadt, Salons und Akademien definiert.

Ihrem Selbstverständnis nach sind Michel de Montaigne, François de La Rochefoucauld, aber auch mit François-René Vicomte de Chateaubriand und Vittorio di Alfieri noch Autoren der Wende zum 19. Jahrhundert, keine hauptberuflichen Schriftsteller - und erst recht grenzen sie sich von pedantischer Gelehrsamkeit ab: Als 'honnêtes hommes' kennen sie die Welt aus eigener Anschauung, Schreiben ist für sie Zeitvertreib und Ablenkung des Geistes. Es sind also Autoren, die keine sein wollen. Die Distanz zu den Erwartungen des entstehenden literarischen Marktes ist ihnen jederzeit wichtig. Ihre bevorzugten Formen sind literarisierte Ego-Dokumente, die es ihnen ermöglichen, Leben und Werk, individuellen Lebenslauf und allgemeine Geschichte noch als Sinneinheit darzustellen: Dialoge und Briefe, Essays und Aphorismen, schließlich vor allem Memoiren. Costaduras Verdienst besteht nun vor allem darin, einen gewichtigen Teil des literarischen Erbes Europas mit Kultur und Habitus des Adels in Verbindung zu bringen und in seiner Monografie zu zeigen, dass sich ein roter Faden von Baldassare Castigliones "Hofmann", dem Gründungstext des lässigen 'Weltmanns' von Adel, bis hin zu den Memoirenwerken des Vicomte de Chateaubriand und des Conte di Alfieri durch die europäische Literatur zieht.

Seit der durch Karl Philipp Moritz und Johann Wolfgang Goethe mitbegründeten Autonomieästhetik unterliegt der adelige Dilettant aber einem Verdikt. Der Baron Eduard, eher kläglicher Antiheld der "Wahlverwandtschaften", ist ein Mensch ohne Profession. Weder echter Künstler noch Ökonom, lebt er zurückgezogen und verfällt in verantwortungsloser Weise der jungen Nichte seiner Gattin. Der etwas dumpfe, unproduktive Eduard steht ganz im Gegensatz zum Genie und zum autonomen Nur-Künstler, wie er spätestens nach 1800 obligatorisch werden soll. Aber auch in der neuen, vom Leistungsdenken bestimmten Bürgerwelt wird Eduard nicht heimisch.

Den Schwellenbereich der Ablösung eines laienhaften Verständnisses von Autorschaft durch das moderne Genie beleuchtet Costadura mit seinen Porträts schreibender Aristokraten von der Renaissance bis zur Restaurationsära. Er glaubt, dass es sich hier nicht so sehr um inkompatible Modelle handelt; für ihn sind vielmehr Dilettant und Genie zwei Seiten einer Medaille. Er vermutet sogar, dass Alfieri ein Part an der Herausbildung der Genieästhetik zukommt, erteilt er doch dem adeligen Dilettantismus eine Absage, hält aber am Prinzip autonomen und uneigennützigen Wirkens fest, in ökonomischer und politischer Hinsicht. Aristokratische 'Freiheit' wird letztendlich umgemünzt in ästhetische 'Autonomie'. Costadura behauptet, nur die Adeligen brächten die "nötigen Voraussetzungen mit, um als unbestechliche, mithin unabhängige Dichter zu wirken. Die ästhetische Autonomie entpuppt sich als aristokratisches Privileg." Ergänzend könnte man auf die Vorgeschichte der Genieästhetik in England hinweisen, wo ein Aristokrat, Lord Shaftesbury, erstmals den Künstler als den 'second maker' bestimmte. Aber auch einige deutsch schreibende Romantiker adeliger Herkunft befinden sich an der Grenze zwischen ständischer Tradition und ästhetischer Moderne.

Neu an Costaduras Buch ist nun weniger, dass es an die adelige Abkunft einer Reihe von Autoren erinnert, sondern dass es Elemente aristokratischer Selbstbilder noch da entdeckt, wo man dem gängigen Schema einer Sozialgeschichte der Literatur entsprechend 'Verbürgerlichung' ausgemacht hatte. Bei Montaigne Kritik an der humanistischen Gelehrtenkultur zugunsten adeliger 'Nonchalance' zu erkennen, heißt diesen Autor gegen den Strich zu lesen. Zur Modernität dieses, so Erich Auerbach, ersten Schriftstellers im modernen Sinn gehört eben auch, dass er Wert darauf legt, keinen bestimmten Beruf zu haben und für keinen Markt zu schreiben. Bisher ging man davon aus, dass der von Castiglione im 16. Jahrhundert skizzierte Erfolgstypus des weltmännischen, aber nicht fachlich ausgebildeten 'honnête homme' schon von Anfang nicht unbedingt an adelige Geburt gebunden sei, also schon ein erstes Zeichen der Vorbildfunktion des Adels für das Bürgertum sei. Costadura beharrt nun mit seiner Spurensuche darauf, dass noch bis um 1800 adelige Geburt und aristokratisches Leben und Schreiben im Einklang stehen können. Er kann belegen, dass zumindest in Frankreich die 'Innenschau' des neuzeitlichen Subjekts ausgerechnet in der typisch adeligen Mémoirenliteratur stattfindet.

Costaduras Buch verhandelt literarische und historische Schwellenphänomene, genauer: noch durch den Habitus der Adeligkeit geprägte Autoren, die bereits auf dem Weg zur Moderne sind, also nicht etwa einer veralteten Poetik anhängen, wie es vielleicht gleichzeitig die adeligen Hofdichter tun. Eine Übergangsfigur zur Moderne ist Chateaubriand, neben Lord Byron ein erster adeliger Dandy, dem an der Ästhetisierung des gesamten Lebens gelegen ist und der also bereits zur Avantgarde des modernen Ästhetizismus gehört. Zu dessen Merkmalen aber zählt die Gratwanderung zwischen Öffentlichkeit des Kulturbetriebs und vornehmem Rückzug. Statt einer standesgemäßen Flucht 'aus der Gesellschaft' aufs Land muss auch der adelige Autor der Moderne sich ins Getümmel stürzen, zugleich aber neue fiktionale, publizistische und biografische Rückzugsoptionen erfinden.

Erfreulich genug, dass Romanisten (ähnlich übrigens auch Anglisten) vor der literarischen Adelskultur weniger Berührungsängste zu verspüren scheinen als germanistische Literaturwissenschaftler. Costaduras gewählter, fast literarischer Stil hat selbst etwas von dem der Essays und Memoiren adeliger Autoren. Die Rede ist oft von 'Wahrheit' und 'Redlichkeit' - das heißt aber auch: die biografische Erzählung, unterstützt durch ausufernde Zitate, läuft einer wissenschaftlichen Argumentation über weite Strecken den Rang ab. Gute Lesbarkeit ist aber allemal garantiert, zumal dem Verfasser die allgemeinhistorischen Kontexte jeweils gut bekannt sind - keine selbstverständliche Voraussetzung für eine literaturwissenschaftliche Monografie. Aus den Texten wäre mit Hilfe eines (leider fehlenden) kultursoziologischen und textanalytischen Instrumentariums wohl noch wesentlich mehr herauszuholen. Übergangsphänomene zwischen dilettantischer und 'moderner' Autorschaft ließen sich mit Pierre Bourdieus Habitusbegriff gut beschreiben: Einerseits ist der adelige Dilettant noch dem überkommenen sozialen und kulturellen Kapital verpflichtet, gleichzeitig muss er sich in einem entstehenden künstlerischen Feld positionieren, und sei es dadurch, dass er sich dessen Zwängen ostentativ verweigert. Der Conte di Alfieri ist ein "Ritter der Poesie", der aber ansatzweise die Öffnung auf ein nachrevolutionäres, leistungsorientiertes Konzept von Autorschaft hin verkörpert. Costaduras wichtiges Buch belegt deutlich genug, dass die Kultur des Adels, weit entfernt von bloßer Rückwärtsgewandtheit, an der Konstitution des modernen Schriftstellers bis ins 19. Jahrhundert hinein tätigen Anteil nimmt. Die nachrevolutionäre Literatur der europäischen Romantik zeugt noch indirekt davon, wird doch der Adel dort, so der Klappentext, "zum literarischen Stoff und zur literarischen Attitüde".

Edoardo Costadura: Der Edelmann am Schreibpult. Zum Selbstverständnis aristokratischer Literaten zwischen Rennaissance und Revolution.


Titelbild

Edoardo Costadura: Der Edelmann am Schreibpult. Zum Selbstverständnis aristokratischer Literaten zwischen Rennaissance und Revolution.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006.
290 Seiten, 72,00 EUR.
ISBN-10: 3484550465
ISBN-13: 9783484550469

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