Flaschenpost aus einer entfernten Welt

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Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vergangenheit taucht es auf der Landkarte des literarischen Regionalismus Kanadas auf. Autoren wie E. Annie Proulx, Paul Bowdring, Michael Crummy und Patrick Kavanaugh haben dieses Terrain literarisch erschlossen und das Interesse für eine lang vernachlässigte, missachtete Landschaft, ihre Geschichte und Bevölkerung auch außerhalb Kanadas geweckt. In seinem Roman "Die Kolonie der unerfüllten Träume" verbindet Wayne Johnston, 1958 in Neufundland geboren und mittlerweile in Toronto lebend, die politische Geschichte Neufundlands mit der gewaltigen, felsigen Landschaft Neufundlands, in der die Individuen zu Zwergen schrumpfen, letztlich ihre Träume und Illusionen verlieren und dem Alkohol, der Trivialität oder dem Scheitern sich überantworten. Trotz seiner grandiosen epischen Darstellung der neufundländischen Landschaft und der Befindlichkeit ihrer Bewohner scheitert Johnston wie Word Smith in Philip Roths Roman "The Great American Novel" (1973) notgedrungen am Unterfangen, das neufundländische Äquivalent zum allseits erwarteten Großen Amerikanischen Roman zu schaffen. Des Misslingens ist sich Johnston bewusst - und er integriert das Scheitern als Subtext der Erzählung. "Mit dem Großen Neufundländischen Roman verhält es sich wie mit dem Großen Amerikanischen Roman", konstatierte Johnston in einem Interview mit der "New York Times Book Review": "es wird ihn nie geben." Dennoch bestehe die Aufgabe des Autors, ihn in Angriff zu nehmen, auch wenn das Scheitern vorgezeichnet sei.

Im Zentrum des Romans steht die in Neufundland legendäre Figur Joseph "Joey" Smallwood (1900-1991). Der Protagonist trieb - ärmlichen Verhältnissen entstammend - die Konföderation Neufundlands mit Kanada voran und reüssierte nach dem Verlust der nationalen Eigenständigkeit auf dem liberalen Ticket, im Jahre 1949 als erster neufundländischer Premierminister, um für das nächste Vierteljahrhundert die Geschicke der kargen Insel-Provinz zu lenken. 1972, nach einer Wahlniederlage zog er sich nur widerwillig aufs Altenteil zurück. Dieser kleine und dürre, stets von Selbstzweifeln und Rückschlägen gebeutelte Anti-Bolivar tritt als Ich-Erzähler auf, wobei Johnstons Roman freilich nie zu einer bloßen Nacherzählung des historisch Verbürgten verkommt. Ohne an den geschichtlichen Fakten etwas zu ändern oder gar zu verfälschen, habe er, schrieb Johnston in einem Essay, die historischen Daten mit dem angereichert, was hätte passieren können, und positionierte sich - ohne dass dies anmaßend erschiene - in einer Reihe mit Autoren des postmodernen Realismus, wie Don DeLillo oder Salman Rushdie, die die Oberfläche der historischen Realität mittels der literarischen Imagination durchbrechen.

Vordergründig erzählt der Roman die Geschichte des Aufstiegs eines sozialen Außenseiters, der dem verarmten Zweig eines prominenten Neufundland-Clans angehört, der seinen Wohlstand und seine gesellschaftliche Position der Manufaktur von Stiefeln und Schuhen verdankt. Während Joes Vater aus dem inneren Zirkel verstoßen wurde und sich dem Alkohol ergibt, erhält Joe als einziger der elfköpfigen Familie die Chance, sich in der Klassengesellschaft Neufundlands zu bewähren und wird auf eine elitäre Privatschule geschickt, in der Zöglinge der "besseren Familien" auf ihre künftigen Führungspositionen im Archipel Neufundland vorbereitet werden sollen. Dort sind freilich die Lehrer, zumeist aus England strafversetzt, der Überzeugung, dass sie sich auf dem "Elba des Nordatlantiks" befinden, wo Kultur und Zivilisation zum Scheitern verurteilt seien. In ihren Augen rangieren Neufundländer unter Schotten, Iren und Buren: "Die Schlimmsten unseres Volkes kommen hierher", bemerkt der zynische Rektor, "treiben ein paar hundert Jahre lang Inzucht, und das Resultat sind hunderttausend Neufundländer mit Smallwood am untersten Ende." Selbst die gierige Leselust des jungen Smallwood kommentiert der überhebliche Verbannte mit dem hämischen Kommentar, dass der Große Neufundländische Roman wohl - in Anklang an Tolstois "Krieg und Frieden" - den Titel "Fisch und Fritten" tragen müsste.

Zunächst aufgrund seiner dubiosen Herkunft geschnitten, verschafft sich Smallwood eine gewisse Reputation im Kreis der elitären Schüler, indem er der bewunderten, scharfzüngigen Sheilagh Fielding, einer Tochter der besseren Gesellschaft aus der benachbarten Mädchen-Schule, die Stirn bietet und sie mittels seiner Schlagfertigkeit aus dem Feld schlägt. Vor der Gemeinschaft der Jungen demütigt er das Mädchen, dessen Eltern mit ihrer Scheidung gegen die Konvention der heilen bürgerlichen Familie verstoßen, in einem öffentlichen Wortscharmützel und verschafft sich so seine künftige Rolle als Hofnarr der strengen Kastengesellschaft der Schule. Die Demütigung verwindet Fielding nicht und verfasst anonym einen denunziatorischen Brief über die Zustände an der Jungen-Schule, als dessen Urheber zunächst Smallwood verdächtigt wird, obwohl später Fielding sich als Autorin zu erkennen gibt. Für beide hat es fatale Konsequenzen: sie müssen die Schule verlassen.

Smallwood und Fielding sind wie die Figuren aus Robertson Davies' abgezirkeltem regionalistischen Universum antipodische Charaktere, die ein Leben lang einander verhaftet bleiben, wobei nicht zuletzt der ominöse Brief eine Rolle spielt. Stets bleibt er im Laufe des Romans ein Rätsel: Hat Fielding ihn tatsächlich geschrieben? Stammten die aus dem Buch "A History of Newfoundland" von D. W. Prowse ausgeschnitteten Buchstaben, aus denen sich der Brief zusammensetzt, tatsächlich aus dem vermuteten Exemplar? Steckt hinter all dem vielleicht ein ganz anderer Urheber?

Während Smallwood seiner sozialen Klasse zu entkommen sucht - als Journalist, sozialistischer Agitator oder als gewerkschaftlicher Organisator, liberaler Konvertit und machtorientierter Politiker, aber ein Konformist bleibt, der sich gesellschaftlichen Zwängen unterwirft, heiratet und Kinder in die Welt setzt, weil dies in den Augen der Wähler zum Erscheinungsbild eines Politikers gehört, leistet sich Fielding den Luxus, auf ihre Klassenprivilegien zu verzichten, zu trinken, in einer Pension zu hausen, sowohl die Konservativen als auch die Liberalen in ihren Kolumnen für politisch konträre Zeitungen zu verhöhnen.

Obwohl Smallwood Jahre seines Lebens für die sozialistische Agitation und die gewerkschaftliche Organisation opfert und sich für die stumme, verstreut in der riesigen Landschaft Neufundlands lebende Bevölkerung engagiert, ist doch letztlich das eigene Vorankommen in den Geschichtsbüchern - zumindest den neufundländlischen - die Triebkraft für sein Handeln: "Ich wollte nicht vom armen Schlucker zum Millionär aufsteigen, sondern von der Bedeutungslosigkeit zur Weltberühmtheit, und das beste Mittel zu diesem Zweck schien mir der Sozialismus."

Trotz seiner Ambitionen und Erfolge bleibt Smallwood in Johnstons Roman sein Leben lang klein und dürr, ein neufundländischer David Copperfield, der zuletzt von der eigenen Macht zugrunde gerichtet wird, da ihm ein Korrektiv fehlt. Fielding erscheint selbst als Inkarnation der gewaltigen Landschaft, groß in der Statur, anfällig für den Alkoholismus, aufgeschlossen gegenüber Melancholie und Phlegmatismus. Fielding, die literarische Nemesis Smallwoods, ist die bleibende Schöpfung in Johnstons Roman. Ihr in zahlreiche Montagestücke verteilter "Kurzer Abriss der Geschichte Neufundlands", ihre Tagebucheinträge und Zeitungskolumnen konterkarieren Smallwoods "Autobiografie" auf sardonische Weise.

Verdientermaßen wurde dieser Roman für die prestigeträchtigen Auszeichnungen Griller Prize und den Governor General's Award in Kanada nominiert. Obwohl Johnston hierbei leer ausging, findet sein Roman mit Recht Aufmerksamkeit und Lob sowohl in Europa als auch in den USA. Letztlich ist Neufundland dank dieser literarischen Flaschenpost nicht länger ein blinder Fleck auf der kulturellen Landkarte der Neuen Welt.

Titelbild

Wayne Johnston: Die Kolonie der unerfüllten Träume. Aus dem Amerikanischen von Robert Weiß, Maria Zybak u. Barbara Steckhan.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999.
557 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3455036880

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