Stell dir vor, du stellst dich vor, und keiner stellt dich ein

Udo Achten, Petra Gerstenkorn und Holger Menze legen ein üppiges Lesebuch zum "Recht auf Arbeit - Recht aus Faulheit" vor

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Szene:

Der Kanzler: "Es gibt kein Recht auf Faulheit!"

Der Abgeordnete: "Dieses alberne, verleumderische Geschwätz kommt regelmäßig aus dem Munde von Leuten, die nicht wissen, was arbeiten heißt, die aber sehr wohl wissen, was faulenzen ist. (Heiterkeit!) Lafargue hat diesem läppischen Geschwätz gegenüber das ,Recht auf Faulheit', das ist auf Muße proklamiert. Der Mensch ist nicht ausschließlich zur Arbeit geboren; wir müssen, um Menschen zu sein, uns harmonisch ausbilden, - das können wir nicht ohne Arbeit; ohne Arbeit können wir überhaupt nicht leben [...] Nicht um zu arbeiten leben wir, sondern wir arbeiten, um zu leben. (Sehr richtig!)"

Dieser Wortwechsel hat sich so nicht zugetragen. Die Kanzlerworte standen vielmehr in der Bild-Zeitung, der Kanzler hieß Gerhard Schröder. Die Gegenrede hielt auf einem SPD-Parteitag Wilhelm Liebknecht - im Jahre 1890.

Zum reizvollen Kontrast der Stimmen und Ansichten regt der von Udo Achten, Petra Gerstenberger und Holger Menze zusammengestellte großzügige Band "Recht auf Arbeit - Recht auf Faulheit" an. Ermöglicht wurde er mit Unterstützung der Gewerkschaften IG Metall und ver.di sowie der Walter-Hesselbach- und Hans-Böckler-Stiftung. Der Hinweis ist wichtig, ist doch die Frage nach dem Recht auf Arbeit oder Faulheit für viele Menschen längst beantwortet - in der Arbeitslosigkeit. Aber gerade das Verhältnis der Gewerkschaften zu den "erwerbslosen Kolleginnen und Kollegen" ist vielfach ein Nichtverhältnis. Gewerkschaften, so lautet der Vorwurf, machen Interessenspolitik alleine für Beschäftigte. Dagegen betont Udo Achten in seinem einleitenden Beitrag richtigerweise, dass die "Gewerkschaften wie keine andere Organisation an den Nahtstellen der Gesellschaft präsent (sind), an denen die Solidarität zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten, zwischen Stammbelegschaften und Randbelegschaften zu zerreißen droht. Politische Glaubwürdigkeit und moralische Integrität der Gewerkschaftsbewegung wird nach wie vor an ihrem Umgang mit Erwerbslosen gemessen werden."

Doch wie wenig selbstverständlich das nach wie vor ist, wird in einer kleinen umständlichen Passage des Vorworts deutlich: "Dieses Bilder- und Lesebuch... soll zur Diskussion anregen. Es kann bei unseren erwerbslosen Kolleginnen und Kollegen das oftmals angeschlagene Selbstbewusstsein stärken und die Erkenntnis, dass es nicht unbedingt ihr persönliches Versagen ist, in dieser Situation zu sein." Nicht unbedingt?

Bliebe zu fragen, wie bei den "erwerbslosen Kolleginnen und Kollegen" das "oftmals angeschlagene Selbstbewusstsein" durch dieses Buch gestärkt wird. Zunächst, indem sie 39,80 Euro bezahlen müssen, um es überhaupt zu erhalten. Dann kann man sich in diesem großformatigen Band in der Tat ans Schmökern geben. Zunächst die klassischen Texte: Auszüge aus Paul Lafargues 1891 erschienener Schrift "Recht auf Faulheit" finden sich ebenso wie Wilhelm Liebknechts "Nicht um zu arbeiten leben wir..." oder Auszüge aus den Karl Marx'schen Grundlagen. Neben diesen Texten untersuchen verschiedene Autorinnen und Autoren die wirtschaftlichen und rechtlichen Aspekte rund um den Arbeitsmarkt. Interviews mit Betroffenen beleuchten individuelle Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt Diese Originaltexte sind durchweg informativ, jedoch muten sie aufgrund ihres gutmeinend belehrenden Tonfalls zuweilen wie der gewerkschaftliche Pflichtteil des Ganzen an. Dabei weiß man doch: "Manchmal sagen wenige Striche mehr aus als viele Worte." Daher ist das Buch mit vielen Fotos, Zeichnungen und Karikaturen angereichert. "So werden sich der Leser und die Leserin mit diesen Fotodokumenten bewusst auseinander setzen und sie nicht nur als Illustration hinnehmen."

Die Auseinandersetzung mit Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt, Sozialsicherungssystemen, politischer Aktionen oder Arbeitgeberstrategien ist in diesem Band historisch angelegt. Viele der Fotos und Karikaturen sind "Erinnerungen" an die kämpferische Zeit der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Einen großen Fundus stellt der Band mit nach wir vor aktuell anmutenden Texten von Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Ernst Bloch, Erich Kästner, Erich Weinert, Walter Mehring, Carl von Ossietzky oder Ludwig Renn bereit. Die ausgewählten Texte verweisen auf die große Tradition der literarischen Parteinahme für die Sache der Arbeiterbewegung. Texte von Peter Maiwald, Walter Jens, Alfred Andersch, Rolf Hochhuth aber auch die aus dem Internet gefischte "schöne Geschichte über Herrn Müller" oder das "I-Euro-Stimmungsduo" aus der Kölner alternativen Karnevalsveranstaltung "Stunksitzung" belegen eine Kontinuität bis in die Gegenwart. Schön auch, dass Heinrich Bölls "Anekdote von der Senkung der Arbeitsmoral", die er zum Tag der Arbeit am 1. Mai 1963 verfasst hatte, bereitgestellt wird. Da trifft ein besserwisserischer Tourist einen müßig in der Sonne dösenden Fischer und versucht diesem eine wirtschaftliche Strategie des Fischens zu vermitteln, die dazu führe, dass er als reicher Mann völlig sorglos in der Sonne liegen könne. ",Aber das tu ich ja schon jetzt', sagte der Fischer, ,ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.'"

Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.


Titelbild

Holger Menze / Petra Gerstenkorn / Udo Achten: Recht auf Arbeit Recht auf Faulheit. Udo Achten - Petra Gerstenkorn - Holger Menze.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2007.
392 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783898615334

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