Mann der Mitte

Jonathan Wright lotet Höhen und Tiefen in der politischen Karriere Gustav Stresemanns aus

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 3. Oktober 1929 notierte Joseph Goebbels voller Genugtuung in seinem Tagebuch: "Ein Stein auf dem Weg zur deutschen Freiheit weggeräumt." Mit dem Stein war Gustav Stresemann, mit der deutschen Freiheit war die von ihm angepeilte nationalsozialistische Revolution gemeint. Während der zukünftige Chefpropagandist der NSDAP über den Tod des 51-jährigen Außenministers jubelte, waren die meisten Deutschen an diesem Tag tief bestürzt. Viele glaubten, mit ihm sei nicht nur einer der wichtigsten Staatsmänner, sondern auch die Weimarer Republik zu Grabe getragen worden. Und in der Tat schien mit der Person und Persönlichkeit Stresemanns das letzte Bollwerk der Demokratie weggebrochen zu sein.

Blickt man jedoch auf den wechselvollen Karriereweg des nationalliberalen Politikers zurück, erstaunt noch immer dessen Wandel vom überzeugten Monarchisten und Verfechter eines Siegfriedens im Ersten Weltkrieg zum verlässlichen Demokraten und friedfertigen Europäer. Diese politische Kehrtwendung beschäftigt die Stresemann-Forschung seit Anbeginn und spaltete sie seitdem in zwei Lager. In eines, das ihn als reinen Machtpolitiker und Opportunisten sieht und in ein anderes, das in ihm einen republikanischen Realpolitiker zu erkennen glaubt. Längst weiß man, dass die historische Wahrheit in der Mitte liegt. Und genau dort hat sie Jonathan Wright gesucht und gefunden.

Will man nicht polarisieren, sondern differenzieren, ist wissenschaftliche Feinarbeit gefragt. Die hat der britische Historiker geleistet, indem er möglichst viele Quellen berücksichtigt und kritisch gegeneinander abgewogen hat. Das macht die argumentative Stärke dieser Biografie aus, die an keiner Stelle ein Schwarz-Weiß-Schema, sondern ein ausgewogenes, aber letztlich positives Bild von "Weimars größtem Staatsmann" zeichnet. So tritt uns der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Sohn eines Berliner Flaschenbierhändlers als durchschnittlich begabter und journalistisch aktiver Student der Nationalökonomie entgegen, der nationalliberale Ansichten vertritt und der Parlamentarisierung des Reiches das Wort redet. Nationalismus, Liberalismus und Parlamentarismus bilden denn auch die Grundfesten seines weiteren politischen Denkens und Handelns.

Dass diese Prinzipien nicht immer miteinander in Einklang zu bringen waren, wird dem kurz nach der Jahrhundertwende promovierten Nationalökonom nicht nur bei seinem Aufstieg in der Nationalliberalen Partei und seinem Einzug ins Parlament bewusst. Sondern vor allem während des Ersten Weltkriegs, als der überschäumende Patriotismus eine Liberalisierung und Demokratisierung der Monarchie anfangs in weite Ferne rücken ließ, die absehbare Niederlage 1917 sie dann aber geradezu herausforderte. Der Historiker aus Oxford weiß diesen und die vielen anderen kritischen Wendepunkte in Stresemanns politischer Laufbahn in ihrer ganzen Komplexität und vor allem in ihrer weitreichenden Bedeutung ebenso präzise wie plausibel zu veranschaulichen.

Dass Stresemann bis zum Schluss für einen Annexionsfrieden optierte, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg befürwortete und der Obersten Heeresleitung blind vertraute, wird ebenso kritisch beleuchtet wie sein Einsatz für ein demokratisches Wahlrecht und die Parlamentarisierung des Reiches gewürdigt wird. Solch widersprüchliche Einstellungen und Entscheidungen begegnet man in Stresemanns politischer Biografie immer wieder. Wright weiß sie nicht nur ausführlich zu beschreiben, sondern auch mit Stresemanns prinzipiellen Willen zum Kompromiss, zur Toleranz und zur Demokratie plausibel zu erklären.

Allerdings galten Stresemann die friedliche Durchsetzung nationaler Interessen und demokratische Reformen erst nach dem Zusammenbruch der Monarchie wirklich als zwei Seiten einer Medaille. Wenn er auch noch lange unter der Niederlage des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserreichs litt, so wusste er sich dank seiner Hartnäckigkeit und seines Verhandlungsgeschicks mit der von ihm im Dezember 1919 gegründeten Deutschen Volkspartei in der Weimarer Parteiendemokratie fest zu etablieren. Und zwar als "entscheidendes Bindeglied zwischen rechts und links". Um den Erhalt der Nation willen vermittelte der zum Vernunftrepublikaner Geläuterte, statt zu spalten. Nach innen wie außen. Diese Fähigkeit zum Ausgleich und sein Realitätssinn empfahlen ihn 1923 geradezu als Reichskanzler, der die größte Krise der Weimarer Republik mit dem Abbruch des Ruhrkampfs politisch und mit der Einführung der Rentenmark wirtschaftlich eindrucksvoll bewältigte.

Dafür und für seine Leistungen als Außenminister in den Jahren von 1924 bis 1929 erntete er bei linken wie rechten Extremisten freilich nur Hass und Spott. Sie torpedierten auch seine schwierigen Verhandlungen mit den ehemaligen Weltkriegsgegnern. Ohne Erfolg. Sonst wäre die Weimarer Republik wohl schon früher zerbrochen. Dieser innen- wie außenpolitisch gefährlichen Gratwanderung schenkt Wright zu recht die größte Aufmerksamkeit und den größten Raum. Doch trotz langjährigen Quellenstudiums kann Wright den diplomatischen Leistungen Stresemanns keine wirklich neuen Erkenntnisse entlocken. Was er über die Reparationsverhandlungen (Dawes- und Young-Plan), den Locarno-Pakt mit Frankreich oder den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zu sagen hat, ist nicht neu oder originell interpretiert. Gleichwohl geht er im Gegensatz zu den bisherigen Biografen stärker ins Detail und liefert so sehr differenzierte Einblicke in die innen- wie außenpolitischen Entscheidungsprozesse dieser Zeit.

Insofern liest sich die politische Biografie von Wright streckenweise wie eine ganz allgemeine politische Geschichte der Weimarer Republik, in deren Mittelpunkt ihr zeitweise wichtigster Akteur stand. Leider erfahren wir nur wenig über das Zeitkolorit und über den privaten Stresemann, der die Künste liebte und seinen Zeitgenossen und der Nachwelt nicht nur wegen seiner politischen Leistungen, sondern auch wegen seines Charakters und seiner Ausstrahlung in positiver Erinnerung blieb. Hier könnten die Stresemann-Biografen der Zukunft noch etwas nachbessern. Ansonsten aber handelt es sich derzeit um die solideste Lebensbeschreibung eines der bedeutendsten deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts.


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Jonathan Wright: Gustav Stresemann 1878 - 1929. Weimars größter Staatsmann.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Dieter Schmidt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
669 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3421059160

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