Erinnerungen an den Holocaust aus zweiter Hand

Anne Michaels spürt den Schicksalen der Opfer nach

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mittlerweile gibt es unzählige, oft sehr bewegende Berichte über den Holocaust. Wichtig ist sicherlich jedes Buch, das uns vor dem Vergessen der schlimmen Gräueltaten unter Hitler bewahrt, zumal immer wieder neue Generationen heranwachsen, die mit dem nicht auszulöschenden und nicht wiedergutzumachenden Makel in der deutschen Geschichte konfrontiert werden müssen. Inzwischen haben auch Außenstehende die Shoah und ihre Folgen als literarisches Thema für sich entdeckt; jene also, die das Grauen selbst nicht miterlebt haben und daher darauf angewiesen sind, sich anhand von Originalquellen die Erinnerungen zu erschließen. Zu diesen gehört auch die 1958 in Kanada geborene Autorin Anne Michaels, die bisher Gedichtsammlungen veröffentlicht hat. Mit ihrem Debütroman "Fluchtstücke" ist ihr, abgesehen von kleinen Schwächen, der Balanceakt zwischen Nachfühlen und Einfühlen in das Schicksal der Opfer, geglückt.

Das Buch beginnt mit der Nachricht, dass Jakob Beer und seine Frau im Frühjahr 1993 in Athen an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben sind und dass Beer, der Dichter und Übersetzer postumer Schriften aus dem Krieg, kurz vor seinem Tod damit begonnen hat, seine Memoiren niederzuschreiben, die nun hier in Ichform wiedergegeben werden.

Als Siebenjähriger musste Jakob 1940 in Polen, versteckt in einem Schrank hinter der Tapete miterleben, wie deutsche Soldaten seine Eltern ermordeten und seine Schwester Bella verschleppten. Athos, ein griechischer Archäologe, der gerade mit der Ausgrabung von Biskupin, einer im Schlamm versunkenen polnischen Stadt, beschäftigt war, fand den völlig verstörten Jungen und nahm ihn mit auf seine Heimatinsel Zakynthos. Als die Deutschen bald darauf auch in Griechenland einfielen, musste sich der kleine Jude Jakob abermals verstecken. Aber dann endlich ist der Krieg zu Ende, und Jakob kann sich wieder frei bewegen. Doch die Alpträume bleiben. Bei Athos und seinen Freunden findet Jakob viel Verständnis und Einfühlungsvermögen. Er hat Glück, mehr als andere Kinder, die die Nazizeit wirklich im Versteck oder bei Fremden überlebten. Nicht alle fanden wie Jakob so wundervolle Menschen, die sich ihrer annahmen. Manche wurden von ihren Pflegeeltern gequält und misshandelt. Man lese nur einmal die von André Stein herausgegebenen Geschichten "Versteckt und vergessen. Kinder des Holocaust" oder die rührende Erzählung "Jankel lebt. Ein jüdisches Kind auf der Flucht".

Athos erzählt Jakob allerlei Geschichten und führt ihn in die Welt der Wissenschaften ein. So lenkt er Jakob allmählich von der Vergangenheit ab. Nur nachts begleitet ihn Bella weiterhin: "Nachts lag ich wach und hörte sie im Dunkeln atmen oder singen". Athos und seine Freunde, Kosta und Daphne, bleiben ihm weiter zugetan: "Wenn ich meine Alpträume hatte, kamen sie zu mir und setzten sich alle drei an mein Bett", erinnert sich Jakob. Eines Tages folgt Athos einem Ruf an die Universität in Toronto und nimmt Jakob mit. Später schreibt sich Jakob an der Universität ein und belegt Kurse in Literatur, Geschichte und Geographie. Noch im Erwachsenenalter quälen ihn die Erinnerungen an die Schrecken des Krieges und den Verlust der Eltern. Noch immer wird ihm jede kleinste Entscheidung zur Qual. Seine Ehe mit Alexandra scheitert aus diesem Grund. Erst als er Michaela begegnet, wird alles anders. Ihre Liebe hilft ihm, seine Schuldgefühle zu bewältigen und die Gespenster der Toten zu verbannen. Zum ersten Mal in seinem Leben spürt Jakob eine Zukunft. Auch Benn, Protagonist im zweiten Teil des Buches, wird dies nach Jakobs Tod feststellen, als er dessen Gedichte liest. Als Bewunderer des Dichters Jakob Beer folgt er den Lebensspuren des Toten bis nach Griechenland und entdeckt dort sogar Notizbücher von ihm. Der in Kanada geborene Ben wiederum ist ein Kind von Überlebenden und erfährt erst nach dem Tod seiner Eltern, dass sie vor ihm schon eine Tochter und einen Sohn hatten, die während des Krieges ums Leben kamen.

Mannigfaltige Lesefrüchte sind in den Roman eingegangen: Zeugenberichte vom Holocaust und historische Forschungen über den Krieg und die Nazi-Besetzung in Griechenland sowie wissenschaftliche Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen. Zweifellos hat Anne Michael sorgfältig recherchiert und ein genaues Quellenstudium betrieben. Ihr Roman, mit dem sie offensichtlich ein Zeichen setzen wollte, wurde begeistert aufgenommen. In Kanada stand er wochenlang auf den Bestsellerlisten. Die Autorin schildert die Geschichten von Jakob und Ben in einer eindringlichen, abgehobenen, lyrisch getönten und bedeutungsschwangeren Sprache, mit oft recht blumigen Sätzen, die fast kitschig klingen. Beispielsweise, wenn es heißt: "Als meine Mutter mit vierundzwanzig Jahren ins Ghetto gesperrt wurde, weinten ihre Brüste Milch." Immer wieder ergeht sie sich in schönen Bildern und wortreichen Beschwörungen - wobei das Grauen in den Ghettos und in den Lagern durchweg ausgespart bleibt -, um traumatische Erinnerungen begreiflich und nachvollziehbar zu machen. Aber ihr Buch löst keine Erschütterung aus, im Gegensatz zu den authentischen, oft beklemmenden Aufzeichnungen, in denen Menschen zu Worte kommen, die unmittelbar durch den Holocaust bedroht waren. Diese gehen mehr zu Herzen als der von Anne Michaels artifiziell gestaltete Roman.

Titelbild

Anne Michaels: Fluchtstücke.
Berlin Verlag, Berlin 1997.
366 Seiten,
ISBN-10: 3827002303
ISBN-13: 9783827002303

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