Babuschka, ihr schmeckt's nicht!

Ein touristischer Blick auf russisch-jüdischen Alltag: Lena Goreliks "Hochzeit in Jerusalem"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

St. Petersburg, 1992: Anja Buchmann ist 11 Jahre alt und wünscht sich eine Barbie. "In Sankt Petersburg gibt es nur Nachahmungen zu kaufen, sie heißen Petra und Alice und Julia [und sind] ganz primitiv gefertigt [...]. Trotzdem kosten sie ein Vermögen." Zum Geburtstag schenkt man Anja eine Petra. "Es ist die billigste, die es zu kaufen gibt, und trotzdem viel zu teuer für meine Familie. Das Mädchen aus meiner Klasse mit der echten Barbie sagt: 'Sie hat ja nicht mal ein Kleid an', aber ich liebe meine Petra. Meine Petra trägt einen geblümten Body." Am Morgen der Abreise, in allerletzter Minute, ergattert Anja doch noch eine Barbie. Eine echte. Und während schon der Zug anfährt, der die Buchmanns nach Deutschland bringen wird, ruft Anja den Verwandten zu, sie sollen es schnell weitertragen, an alle ihre Klassenkameraden: Anja hat jetzt eine Barbie. Eine richtige, eine echte. Eine, bei der man sogar die Kniegelenke durchbeugen kann.

Mit dieser Szene beginnt die Geschichte von Anja, dem literarischen Alter Ego Lena Goreliks. Geboren 1981, veröffentlichte die junge Autorin schon 2004 eine erste bittersüße biografische Rückschau: Den Roman "Meine weißen Nächte", in dem sich Anja zwischen dem braven deutschen Freund Jan und ihrer wilden russischen Jugendliebe Ilja entscheiden muss. Dabei erzählt sie von früher: vom Schlangestehen in der Sowjetunion, den Ferien in der Datsche, der harten Zeit im deutschen Asylantenheim. Und sie erzählt von jetzt: von ihrer nervösen Mutter mit ihrer alles erdrückenden russischen Mutterliebe, vom exzentrischen Vater und dem großen Bruder und der Integration. Ein Buch über Kartoffelsalat und Vodka und die kleinen Kulturschocks, wenn Anjas russische Sippe in ihren spießig-deutschen Studentenalltag einfällt.

",Meine weißen Nächte' beweist, dass junge deutsche Literatur sowohl Leichtigkeit als auch Tiefe besitzen kann", schwärmte damals die SZ. Ein charmantes Debüt, stimmt. Doch bewiesen wurde damit eigentlich nur, dass noch Platz ist zwischen "Russendisko" und "Maria, ihm schmeckt's nicht!", zwischen "Zonenkinder" und "Mein erstes T-Shirt". Dass der Markt noch mehr will, immer mehr solcher schlicht gestrickter bittersüßer Multikulti-Schmunzeltexte. "Nutella war Luxus!"-Klagelieder und "Alle anderen Kinder hatten einen Ranzen von Scout!"-Tragödien. Texte über Konsum und Alltag, in deren Mitte Mama den Tisch mit Selbstgekochtem überlädt, zuhause, und zuhause ist immer alles gut. "Roman" steht auf dem Cover solcher Bücher, obwohl sie immer nur Episodisches versammeln. Und egal, ob's um Italiener oder Russen oder Türken geht, der Kulturvergleich führt stets in den Supermarkt und auf den Pausenhof und endet schließlich versöhnlich in Mamas Küche.

"Ich war katholisch-Pelikan-Nesquik", brachte Max Goldt einmal die großen sozialen Brennpunkte seiner Kindheit auf den Punkt. "Bei Klassenkameraden, die evangelisch-Geha-Kaba waren, roch es komisch." Mehr hat auch Lena Gorelik nicht zu sagen. "Hochzeit in Jerusalem", ihr Zweitroman, ist eine neue, ziemlich redundante Auflistung der Dinge, die Anja Buchmann trennen von der satten, müden deutschen Alltagskultur: "[...] wenn Freunde sich nach dem dritten Bier an ihre Schultüten erinnern oder darüber diskutieren, ob die Zeichentrickfigur Wicki nun ein Mädchen oder ein Junge ist. Anschließend geht es meist weiter mit YPS-Heften und C64-Spielen. Sie reden dann alle durcheinander, werfen Erinnerungen in eine große Runde, zu der ich nichts beitragen kann, weil es in Russland keine Schultüten gab, auch keine Wickis, Computer oder YPS-Hefte."

Lena Gorelik möchte Unterschiede aufzeigen. Subtile Grenzen zwischen den Kulturen. Deutschland von unten, Alltag aus der Außenvor-Perspektive: "Wir waren sechzig Juden, zusammen mit Asylanten waren wir familienweise in kleinen Zimmern in Holzbaracken untergebracht. Hinter Stacheldraht. Wir waren Kontingentflüchtlinge, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die nach einer Sonderregelung nach Deutschland einreisen durften, ein Signal an die Welt, dass das wiedervereinigte Deutschland ein anderes ist. Ein Deutschland, in das Juden gerne kommen, freiwillig. Wie schön."

Das erste Buch handelte von der russischen Soziologiestudentin Anja Buchmann, aufgerieben zwischen russischer Tradition und deutscher (Konsum-)Kultur. Das neue Buch, "Hochzeit in Jerusalem", spielt zwei Jahre später (die Verehrer Jan und Ilja sind mittlerweile passé) und bringt zwei zusätzliche Variablen in Anjas kulturelles Vabanquespiel: (orthodoxes) Judentum und die flirrende Kulisse eines säkulären, lauten, touristischen Israels. Dabei ist Goreliks "Hochzeit" ein deutlicher bemühterer, genauer konstruierter Roman als sein Vorgänger. Weniger Kolumnen-Momente, mehr Dialogpassagen, und ein breites geografisches Feld. Von Straßburg nach Tel Aviv, von Russland nach Ludwigsburg schaut die (jetzt weniger russische als vor allem:) jüdische Kommunikationsberaterin Anja Buchmann wohlwollend, aber ortsfremd auf jüdisches Leben. Als Gegenfigur neu dabei: Julian, eine Internetbekanntschaft Anjas, die zum Judentum konvertieren will, nachdem er erfährt, dass die Eltern seines Vaters im KZ ermordet wurden.

"Wir wollten Falafel holen", erzählt Anja über Israel, "ich ging zum Imbiß gegenüber vom Haus meiner Cousine. Sie meinte, wir sollten zwei Straßen weiter gehen, da sei ein anderer, ein israelischer Stand. 'Um Terroristen nicht auch noch finanziell zu unterstützen', sagte sie. Ihr Freund, ebenfalls Israeli, und ich hielten ihr einen Vortrag über Pauschalurteile, Diskriminierung und Klischees in zwei verschiedenen Sprachen. [Meine Cousine] sagte, wir seien doch Juden. Ich antwortete, vor allem sei ich ein Mensch. Im stillen dachte ich: Ich will doch nur was essen. Eigentlich will ich mich nicht für eine Seite entscheiden müssen. Ich bin kein Patriot, außer vielleicht in Deutschland, ein bisschen, seit der WM. Also esse ich israelische Falafel und fahre mit Julian in einem arabischen Bus."

Alltagsgesten, Allerweltsprobleme: Anjas deutsch-russischer Kulturclash in "Meine weißen Nächte" hatte eine greifbare biografische Dringlichkeit ("Meine erste Barbie war eine Petra!"). Dass das neue Buch, "Hochzeit in Jerusalem", mit demselben hilflosen "Ich bin eine junge Frau zwischen den Welten!"-Gestus plötzlich um Anjas (spezifisch) jüdische Identität rotiert, funktioniert indes nicht halb so gut: "Es ist mir plötzlich ein Bedürfnis, das Benehmen israelischer Soldaten an den Grenzen zu erwähnen, die hoffnungslosen, verarmten Städte in Gaza, die palästinensischen Kinder, die keine Chancen bekommen. Die triste und blinde Wut, die daraus erwächst." Das ist keine literarische Emphase, keine journalistische Annäherung, auch kein mutiger biografischer Zugriff. Sondern der Versuch, ein paar Seiten zu füllen. Ohne, dem Thema dabei auch nur annähernd gerecht zu werden: Allerweltsgedanken eines deutschrussischen Mittelschichtmädchens. Satt und müde. Und banal.

Die titelgebende Hochzeit, wegen der Julian, Anja und ihre (immer noch sehr liebenswert-verrückt geschilderte) russische Sippe nach Israel gereist sind, ist niemandem besonders wichtig. Die Braut ist eine Cousine vierten Grades, Anja hat sie längst vergessen. Auch Israel kennt sie schon ein wenig, erinnert sich an die Fladenbrote und das Rote Meer, an Tauchkurs, Tanzen, Hotelzimmer. "Heimat, was ist das schon", beschließt Anja diese lustlose Rückschau. Lena Gorelik muss sich die Frage gefallen lassen, weshalb sie sich über ein Thema, dass biografisch für sie ein so offensichtliches Nicht-Thema bleibt, einen ganzen Roman abquält: In den ersten zehn Seiten von Goreliks Debüt, in der Barbie-Zitterpartie ihrer elfjährigen Anja, verdichtet sich mehr Frustration und Politik, Identität und Poesie als im Gesamttext dieser öden Fortsetzung.

Wickie übrigens ist ein Junge. Und man schreibt ihn mit "-ie", klar! Dass Gorelik keine Chance hat, solche westdeutschen 80er-Jahre-Mittelstandskindheits-Tropismen zu überblicken, das scheint noch immer ein viel größeres, viel brennenderes Lebensthema für sie zu sein als irgendein nicht-praktiziertes Judentum an den Rändern ihrer Verwandtschaft: Mit Barbie und Wickie zeigt sich Goreliks Zerrissenheit, die Suche nach greifbarer, geschlossener kultureller Identität in Supermarkt und Pausenhof und Mamas Küche. Ach, ihr Retro-Kinder aus Ost und West! Wenn's sein muss, schreibt ruhig noch tausend bittersüße Multikulti-Schmunzeltexte, über die richtigen Stickeralben und die falschen Turnbeutel, über Raider und Twix und Tele 5 und den fremden Blick auf deutschen Alltag und deutsche Ignoranz. Alles wichtig, alles richtig. Alles besser als auch nur ein Kapitel über die Klagemauer, bei dem nach drei Sätzen merkt: Füllszene, Nebensache. Tiefgründigkeitsprothese.


Titelbild

Lena Gorelik: Hochzeit in Jerusalem.
SchirmerGraf Verlag, München 2007.
256 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783865550378

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