Frühlings Erwachen für Hauptschüler

Brigitte Blobels "Hast Du schon?" hat knallig bunte Kondome auf dem Cover und ist im Innern einfach schwarz-weiß

Von Malte HorrerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Horrer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Jugendzeitschrift "Bravo" rekrutiert seit Jahrzehnten ihre Leser nicht zuletzt damit: Sex! Gleich zwei Ratgeberrubriken beantworten dabei immer wieder das wichtigste Problem: Wann ist der richtige Zeitpunkt für das erste Mal?

Die meisten Fragen drehen sich genau darum, inklusive der gender-spezifischen Abwandlungen "Mein Freund will mit mir schlafen, aber ich weiß noch nicht. Was soll ich tun?" und "Ich will mit meiner Freundin schlafen, aber sie will noch nicht. Was soll ich tun?" sowie der geschlechterübergreifenden Ergänzungsfragen "Wie baue ich das Kondomüberziehen sinnvoll ein?", "Tut das erste Mal weh?" - et cetera.

Brigitte Blobel hat diese zwei Seiten jugendlicher Erfahrungsberichte, jugendlicher Fragen und pädagogisch sinnvoller Antworten auf rund 100 Seiten aufgebläht und in eine epische Form gebracht.

Das Personal:

- Jana und Melissa: beste Freundinnen, Hauptschülerinnen, 14 Jahre alt

- Tom, Lasse und Rick: 3er-Clique, auch Hauptschüler, 15 Jahre alt

- Olli : Janas fester Freund, Kfz-Mechaniker-Lehrling, 16 Jahre alt

Außer der hübschen Blondine Jana und ihrem Freund Olli sind die Hauptfiguren Singles. Und nicht nur das, auch ihr erstes Mal steht ihnen noch bevor - allerdings nicht nur den Singles, sondern auch Jana und Olli. Und da haben wir auch schon den Salat: Olli will nämlich endlich Sex mit Jana haben. Sein Ultimatum [sic!] ist milde gesprochen sportlich zu nennen: Am nächsten Tag muss es soweit sein, dem Tag, an dem die große Schuldisco stattfindet. Am Nachmittag des großen Tages ruft Jana Olli an, um ihm mitzuteilen, dass sie auf sein Ultimatum doch nicht eingehen und außerdem zur Schuldisko gehen wird. Kurzes Gebrüll, Beziehung in Frage gestellt, Hörer aufgeknallt. Nur weil es keinen Sex gibt. So sind sie, die Männer.

Die drei jungen Herren indessen haben tüchtig Hochprozentiges und die ach so hippen Alkopops gekauft und glühen bereits auf dem Hinweg gut vor. Und in der Disco kommt es dann zum großen Showdown: Tom, der Wortführer des Trios, hatte schon am Vortag angekündigt, dass "die Jana" am Discoabend "fällig" sei. Er bekippt sie mit Bowle, verfolgt sie zur Toilette, wo sie sich säubern will, schiebt sie in eine Toilettenkabine und versucht, sie zum Sex zu zwingen. Ende gut, alles gut!

Klingt zynisch? War ja noch nicht alles: Die versuchte Vergewaltigung wird von Lasse und Rick, in denen doch noch das Gewissen erwacht, in letzter Sekunde verhindert. Sie kündigen Tom die Freundschaft, weil ihre harten Sprüche über Mädchen doch Witze waren und sie eine Vergewaltigung nun nicht wollten, während Jana schon draußen auf der Eingangstreppe heulend kauert. Doch hier lauert das Honigkuchenpferd: Ihr Olli ist ein wahrer Märchenprinz, hat alles verwunden, wartet auf dem Schulhof auf Jana, um sich zu entschuldigen, kann sie nun trösten und auf dem silbernen Nachen, der eigentlich ein Moped ist, nach Hause bringen. Und Freundin Melissa hat von all dem nichts mitgekriegt, weil sie mit dem Computerfreak Dennis getanzt und geredet hat, und jetzt hat auch das graue Mäuschen einen festen Freund. Friede, Freude, Eierkuchen!

Im Avantgardetheater müsste jetzt die Atombombe fallen, nicht so hier. Denn hier ist die Welt schön aufgeräumt in Schwarz und Weiß: Männer kämpfen, Männer wollen nur das Eine, Männer stellen Ultimaten. Frauen reden, Frauen sind Kicherbienen, Frauen sind gehässig. Das Buch zementiert jedes Klischee, um es danach wieder zurückzunehmen, indem es die Kehrseiten ausspielt. Wenn Alkohol zuerst schön locker macht, dann macht er am Ende so locker, dass man sogar zu einer Vergewaltigung bereit ist. Aus beinahe jedem Klischee kann man in diesem Buch auch lernen.

Irgendwie wirkt all das sehr bizarr. Diese Schwarzweißmalerei, das Ende wie in Grimms Märchen, die sprachliche Komplexität irgendwo zwischen Kindergarten und Grundschule - und darin verpackt das Thema Sex und sexuelle Gewalt. Den 12- bis 15-Jährigen wird ihre Welt mit ihren Problemen hier nahe gebracht wie Grundschulkindern: kurze Hauptsätze, einfache Sprache, große Schrift und großer Zeilenabstand. Im normalen Taschenbuchformat wäre das Buch allenfalls 45 Seiten lang.

Bleibt die Frage, ob die Zielgruppe - leseschwache und leseunwillige Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren - sowas wirklich lesen will und ob es pädagogisch ratsam ist, ihr ein weichgespültes "Frühlings Erwachen" zu verpassen. Funktioniert der Deutschunterricht in der Hauptschule damit besser als mit Wedekind? Verführt man diese Jugendlichen damit eher zum Lesen als mit Leonie Ossowski oder Klaus Kordon?

Der Dortmunder Germanistik-Professor Peter Conrady meint ja: "Jeder ist ernst zu nehmen mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten, seinen Erfahrungen und Problemen, seinen Wünschen und Hoffnungen." Die mit dem Rezensenten befreundeten Deutschlehrer haben samt und sonders diese besonders einfache Jugendliteratur, zu der praktischerweise immer auch Unterrichtsmaterialien produziert werden, noch nie genutzt. Was nun? Der Rezensent weiß keine Antwort. Es ist eben nicht immer alles schwarz oder weiß!


Titelbild

Brigitte Blobel: Hast Du schon?
Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2006.
106 Seiten, 4,95 EUR.
ISBN-10: 3473522716

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