Zwischen Archaik und Mythokritik

Susanne Vespermann über Margaret Atwoods Werke

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Margaret Atwood ist nicht nur eine der bekanntesten AutorInnen Kanadas, sondern zeichnet sich zudem durch ihre Vielseitigkeit aus. Ihr Œuvre umfasst Romane, Erzählungen und Lyrik ebenso wie literaturkritische Schriften. Man kann sich ihm also von verschiedenen Seiten nähern. Das weiß auch Susanne Vespermann, die bereits 1995 eine "mythokritische Analyse" ihrer Werke verfasst hat. Vespermann geht davon aus, dass - bei aller Vielfalt der Arbeiten Atwoods - das Interesse und die Auseinandersetzugen mit Mythen und Mythologien fast ihr ganzes Werk durchziehe. Ziel der Studie ist es, deren "Präsentationsform und Glaubhaftigkeit" zu untersuchen. Hierzu legt Vespermann ihrer Arbeit das Mythosverständnis Jean Gebsers, Ken Wilbers' und Ernst Cassirers zugrunde; alle drei, so die Autorin, würden eine Evolutionstheorie vertreten. Zumindest bezüglich Cassirers "Philosophie der symbolischen Formen" sind hier allerdings leise Zweifel angebracht. Einen Evolutionsgang in die symbolischen Formen Sprache, Mythos und Religion sowie in die wissenschaftliche Erkenntnis hineinzulesen, scheint nicht haltbar, beschreibt der Nachfahre der Marburger Schule diese "symbolischen Formen" doch als "Glieder eines einzigen großen Problemzusammenhangs" zur Konstruktion von Bedeutung. Ob Cassirer und die anderen nun aber eine Evolutionstheorie der Erkenntnisformen vertreten oder nicht, ist für Vespermann zweitrangig. Wichtiger ist ihr, dass man die drei Autoren nicht der Mythophilie bezichtigen kann. Eine Haltung von der sie sich vehement distanziert.

So begegnet sie "feministischen Interpretinnen mythophiler Prägung" mit unverhohlener Aversion. Atwood sei "keine Exponentin eines mythophilen Feminismus, dessen Anhängerschaft weismachen will, daß die Wunden der seit Jahrtausenden diskriminierten Frauen durch die Anrufung einer 'Großen Göttin' geheilt" werde könnten. Das ist sicher richtig, und zweifellos ist Vespermanns Kritik am mythophilen Feminismus und seinen Interpretationen Atwoods begründet. Allerdings verstimmt es etwas, dass die Amerikanistin feministischen Literaturwissenschaftlerinnen kaum Beachtung schenkt, die der Mythophilie gänzlich unverdächtig sind.

In detaillierten Einzeluntersuchungen zeigt Vespermann, dass die Kanadierin den Mythos in verschiedenen Varianten darstellt: "als regressiven Bewusstseinsmodus", als "kollektive Glaubensstruktur", als "Baustein einer Ideologie" und schließlich als "mythische Überlieferung". Mühelos weist sie nach, dass Atwood keine mythopoetische Schriftstellerin ist, und eine "dauerhafte weltanschauliche Inanspruchnahme" von Mythos nicht zulässt. Zwar präsentiert Atwood in "Surfacing" mythisches Denken als vorübergehende "Möglichkeit einer therapeutischen Regression" und in "Life bevor Men" oder "Cats' Eye" verschiedene "archaische Denkmodi" als zeitweilige Rückzugsorte, doch warnt sie, wie in "The Handmaid's Tale", nachdrücklich vor einem "kollektiven Rückfall in magisches/mythisches Denken und Handeln". Denn bei aller "Neigung zum Visionären" weiß sie sehr genau um die Gefahr, die eine Aufgabe der Ratio in sich birgt.

Titelbild

Susanne Vespermann: Margaret Atwood : eine mythokritische Analyse ihrer Werke.
Bernd Wißner Verlag, Augsburg 1995.
231 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3928898639

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch