Der Ekel vor den Massen

Thomas Hecken stellt vor, was Theoretiker zum Populären vorzubringen haben

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Durchsetzung der modernen Massen-, Konsum- und Mediengesellschaft ist begleitet worden von einem Unisono-Chor warnender Stimmen, die den Verlust von Individualität, Identität, Orientierung und Gemeinschaft beklagen und sich über den Verfall der Sitten, über die Armut des Massengeschmacks und den Unsinn des Mehrheitsentscheids auslassen.

Unabhängig davon, ob die Warnungen von der politisch linken oder rechten Seite des Spektrums kommen, in jedem Fall stieß und stößt die Entwicklung der Gesellschaft, was das angeht, auf harsche Kritik. Auf der Linken, weil die gesellschaftliche Entwicklung Ausdruck des Systems ist und die Entfremdung und Entmündigung der Individuen wie die Machtakkumulation des Kapitals weiter vorantreibt. Auf der Rechten, weil die gesellschaftliche Entwicklung die Einzelnen aus den angestammten Zusammenhängen löst, die sozialen und symbolischen Hierarchien erodieren lässt und gewohnte Distinktionsstrategien entwertet.

In diesem Zusammenhang erhält die Diskussion der Populärkultur eine spezifische Note: Das Populäre wird vom Volkstümlichen, an dessen Echtheit und Authentizität trotz Nationalsozialismus niemand zu rühren wagt, abgegrenzt und in eine Trias von Populärkultur, Volkskultur und Hochkultur eingebracht, die Gegenstand der ästhetischen Reflexion wird. Zugleich wird die Populärkultur verstärkt im Kontext der politischen Systemwahlen, also um die angemessene Regierungsform in der Massengesellschaft diskutiert. Diese Auffächerung ist nicht beliebig, auch wenn sie den Eindruck macht, dass je nach Provenienz, Fach und Neigung der Beiträger der Schwerpunkt mehr bei politischen oder mehr bei kulturellen Themen liegt. Das jedenfalls scheint weit entfernt von einem sachgemäßen und systematischen Zusammenhang. Aber es erklärt sich daher, dass die Populärkultur unabhängig von der Bedeutungsvarianz immer im Kontext der Massenentscheidung oder Mehrheitsneigung diskutiert wird, die je nach Position positiv oder negativ vermerkt wird.

Hinzu kommt, dass die Frage der Qualität kultureller Produkte immer eingebettet ist in soziale Kontexte. Wo Kultur nicht nur Ausdruck der Produktivität der Menschen ist, sondern auch zu Abgrenzungszwecken eingesetzt wird, verweist der Genuss bestimmter kulturelle Produkte, die Lektüre von Thomas-Mann-Romanen, die Vorliebe für klassische Musik, der kulinarisch ausgebildete Gaumen auf die Struktur der Gesellschaft. Die Bevorzugung des einen vor dem anderen ist damit keineswegs Ausdruck qualitativer Differenz, sondern des unterschiedlichen Orts der Einzelnen im sozialen Gefüge. Das rückt die Selbstsicherheit der kulturellen Eliten, zu denen ja die Intellektuellen zu zählen sind, die sich über das Populäre und seinen Stand in der Gesellschaft austauschen, über das richtige Verhalten und den richtigen Geschmack zu verfügen, in ein denkwürdiges Licht.

Dasselbe gilt für die kritische Sicht auf Mehrheitsentscheidungen im politischen System. Denn wenn die Gewissheit der intellektuellen Eliten, über die Kompetenz zu verfügen, das politisch, habituell und kulturell Richtige vom Falschen zu unterscheiden, nicht zuletzt vom Charakter des sozialen Systems und von ihrem Ort darin abhängen, dann ist damit ihre gesellschaftliche Interpretationshoheit gefährdet. Wenn den intellektuellen Repräsentanten des jeweiligen Systems, sei es autoritär, diktatorisch, ständisch oder demokratisch die Populärkultur "unheimlich" ist, dann rückt das die Aufmerksamkeit auf jene Massen, die jenseits von Aufklärung und sachlicher Erwägung, unabhängig von Bildung und Kompetenz Entscheidungen treffen und ihre Favoriten küren, ihre politischen wie ihre kulturellen. Davon jedoch, die Kultur der Massengesellschaften, die Populärkultur angemessen zu verstehen, scheinen Intellektuelle und Wissenschaftler noch weit entfernt zu sein.

Das lässt sich zumindest dem Kursus entnehmen, den Thomas Hecken mit seinem Band "Theorien der Populärkultur" präsentiert. Im wesentlichen hat Hecken Autoren des 20. Jahrhunderts und ihre Behandlung des Populären poträtiert. Dazu gehören bis auf die Ausreißer Friedrich Schiller und Alexis de Tocqueville neben Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno eben auch berühmte Massentheoretiker wie Ortega y Gasset oder Staatstheoretiker wie Carl Schmitt; Leslie Fiedler und Umberto Eco werden hier ebenso vorgestellt wie Michael Bachtin, Pierre Bourdieu, Michel Foucault oder Jürgen Habermas.

Hecken geht es um das Populäre, um jene Oberflächenkultur also, die ja gerade den Tiefsinn, die Reflexion oder den Sachdiskurs ignoriert und in der kurzweiligen Selbstentblößung und im lauthalsen Genuss ihre primäre Qualität hat. Kein Zweifel, im generellen Urteil kommt die Populärkultur nicht gut weg, auch wenn Soziologen wie David Riesman oder Paul Lazarsfeld sich ihr intensiv gewidmet haben - nicht zuletzt, um herauszubekommen, was das Volk denn wirklich will. Eine Werbung der 1970er- oder 1980er-Jahre wusste das genau: Maoam. Spätestens jedoch seit den Zeiten Leslie Fiedlers, dem Anbruch der so unreglementierbaren und verspielten Postmoderne und dem Durchbruch der Kulturindustrie zur gesellschaftlichen Leitindustrie verschärft sich die Notwendigkeit, mehr darüber herauszufinden, wie diese Kultur überhaupt funktioniert. Dass dabei alles noch auf Anfang steht, wird nach der Lektüre dieser Durchsicht Heckens deutlich. Phänomene wie "White Trash" und "Coach Potatoes" sind möglicherweise durchaus viel mehr als nur die Vorboten des kommenden zivilisatorischen Verfalls. Sie sind eben auch das Resultat von Strategien innerhalb einer Überflussgesellschaft, deren Realität immer mehr medial vermittelt wird, eine sinnhafte Existenz zu sichern. Hinter der Verweigerung der Aktivität, die der neueren Soziologie zufolge das Kernparadigma der Moderne stellt, steckt möglicherweise eben auch die Konstituierung einer selbstbestimmten, wenngleich für die meisten Intellektuellen wohl kaum attraktiven Lebensform. Dagegen hilft nicht einmal die gewohnte Integrationsstrategie der Gesellschaft und Kultur, die alles zum symbolisch wertvollen Besitztum deklarieren kann, was auch nur einigermaßen funktionsfähig ist und der Konstituierung von Strukturen nutzt.


Titelbild

Thomas Hecken: Theorien der Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies.
Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
232 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783899425444

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch