Lust am Kontext

Moritz Baßlers Versuch einer literaturwissenschaftlichen Text-Kontext-Theorie

Von Sascha MichelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Michel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit jeher gehört es zum Alltagsgeschäft der Literaturwissenschaft, Bezüge zwischen Texten und ihren kulturellen Kontexten herzustellen. Selbst die strengsten Vertreter von Werkimmanenz und close reading ertappt man regelmäßig dabei, wie sie mit übergreifenden Autoren- oder Epochen-Konstrukten die eigenen Lektüren plausibilisieren, während auf der anderen Seite die Spezialisten fürs Kontextuelle oft gerade umgekehrt verfahren, indem sie ihre kultur- und sozialgeschichtlichen Metaerzählungen mit Detailbeobachtungen am Einzeltext unterfüttern.

Angesichts dieser Omnipräsenz des Kontextuellen ist es umso erstaunlicher, dass es bis heute keine literaturwissenschaftliche Theorie gibt, die methodologisch klären würde, was man da eigentlich genau macht, wenn man vom Text zum Kontext springt und umgekehrt. Moritz Baßlers Buch "Die kulturpoetische Funktion und das Archiv" unternimmt nichts Geringeres, als eben eine solche Theorie nachzuliefern, und dabei endlich einen methodisch bruchlosen Weg vom Text zum kulturellen Kontext aufzuzeigen. Methodische Brüche nämlich handelt sich die Literaturwissenschaft immer dann ein, wenn sie - ob heimlich oder im Brustton der Überzeugung - vom einzelnen Text in die Empirie von Autorenbiografie und Gesellschaft oder aber in die textferne Abstraktion historischer Metaerzählungen springt.

Das literaturtheoretische Paradigma, von dem Baßler dabei ausgeht, ist der in den 80er Jahren in Kalifornien entstandene New Historicism, den Baßler mit einem einschlägigen Sammelband schon vor über zehn Jahren auch in Deutschland einem breiteren Publikum vorgestellt hat. Zwar zeichnet sich der New Historicism nicht gerade durch seine methodologische Schärfe aus, mit seinem rein textualistischen Konzept von Kultur aber und seinem Hang zu akribischen statt metanarrativ aufgeladenen Lektüren stellt er für Baßler nach wie vor die attraktivste Denkschule einer an kulturellen Kontexten interessierten Literaturwissenschaft dar.

Dem methodologischen Defizit des New Historicism begegnet Baßler mit einem regelrechten Parforce-Ritt durch die neuere Theoriegeschichte. Von Bachtin bis Foucault, von Gadamer bis Luhmann dreht Baßler so ziemlich alles, was Rang und Namen hat, durch den schier unersättlichen Reißwolf seines ehrgeizigen Unternehmens. Dass diese Theorie-Aufarbeitung nie langweilig und vor allem nie beliebig wirkt, liegt an der Frische und Klarheit von Baßlers literaturwissenschaftlichem Stil. Seit seiner hoch gelobten Studie über den deutschen Pop-Roman weiß man, dass der Autor einer der wenigen Germanisten ist, die Literaturwissenschaft als spannende und unterhaltsame Angelegenheit verstehen. Mit seinem Theorie-Buch beweist er nun darüber hinaus, dass er im Unterschied zu vielen Kollegen weiß, was er tut, wenn er sich als Textwissenschaftler für die endlosen Weiten des kulturellen Universums öffnet und sich damit natürlich vor allem ein gewaltiges Komplexitätsproblem aufbürdet.

Baßlers Buch ist deswegen so anregend und überzeugend, weil es auf eine (geradezu heimtückisch) entspannte Weise ein stets klares Ziel vor Augen hat und dank seiner unmissverständlichen Positionierung die nötigen begrifflichen Distinktionen schafft, ohne sich dabei in unfruchtbaren literaturtheoretischen Grabenkämpfen zu verlieren. Wie viele Diskussionen und Sammelbände hätte man sich zum Beispiel in der Germanistik bis weit in die 1990er-Jahre hinein sparen können, wenn man ähnlich nüchtern und relaxed wie Baßler mit hermeneutischen Kategorien wie "Autorschaft" und "Sinn" umgegangen wäre. Für Baßler jedenfalls löst sich der ganze alte Streit zwischen Hermeneutik und (Post-)Strukturalismus einfach dadurch auf, dass man zwischen Textanalyse und Kommunikation zu unterscheiden weiß: Natürlich kann und soll man sich für Autoren und ihre Aussagen interessieren, als Leser sollte man dabei allerdings wissen, dass man dann den Text damit in eine Kommunikationshandlung verwandelt, was zwar der Normalfall bei Lektüren, keineswegs aber selbstverständlich ist. Die Abkehr vom Kommunikationsparadigma wiederum ist für Baßler keine Entscheidung, die mit irgendwelchen ontologischen Annahmen à la "Der Autor ist tot" oder "Ein Text-Äußeres gibt es nicht" einherginge, vielmehr hat sie einzig und allein methodologische Gründe.

Dort, auf methodologischem Gebiet, lässt auch Baßler nicht mit sich spaßen: Um wissenschaftliche Konsistenz und Analysierbarkeit im Sinne methodischer Bruchlosigkeit gewährleisten zu können, kommt die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft nicht daran vorbei, ihre "operativen Begriffe als textuelle zu bestimmen": Ein Text also ist ein Text (und keine kommunikative Äußerung), und die Kultur, auf die der Text verweist, besteht ebenfalls aus nichts anderem als aus Texten - von der Parfümwerbung über die Aufstellung einer Fußballmannschaft bis hin zu völlig vergessenen Geheimbundromanen aus dem 18. Jahrhundert. Das theoretische Konzept, das beide Ebenen methodisch bruchlos verbindet, ist in erster Linie Julia Kristevas Konzept der Intertextualität. Entsprechend versteht Baßler die paradigmatische Achse jedes konkret vorliegenden Syntagmas nicht etwa - wie die Linguistik - als vortextuellen, abstrakten Code, sondern ihrerseits als konkretes Syntagma, das den Einzeltext qua Kontiguität mit dem Text der Kultur verknüpft.

Dieses klare Bekenntnis zur vertikalen Achse der Intertextualität, mit dem die Abkehr von der kommunikativen Achse der Hermeneutik und die (methodologische!) Verabschiedung einer die kontextuellen Semiosen kontrollierenden Autorinstanz einhergeht, rückt Baßler in die Nähe des Poststrukturalismus. Was Baßler aber auf angenehme Weise von Jacques Derrida oder Paul de Man unterscheidet, ist sein undramatischer Verzicht auf jegliche antihermeneutische Emphase und vor allem sein viel ausgeprägteres Interesse an literaturwissenschaftlicher Operationalisierbarkeit.

Da Baßler auch als Kulturwissenschaftler Textwissenschaftler bleiben will, erscheint aus seiner Sicht der gegen die kulturwissenschaftliche Mode gerichtete Ruf nach Rephilologisierung als komplett sinnlose Alternative. Zwar hätte man sich von seinem Buch durchaus mehr Anschauung am philologischen Einzelfall gewünscht, insgesamt aber ist doch unverkennbar, dass Baßler Theoriebildung nicht um ihrer selbst willen betreibt, sondern als Philologe vor allem an einem interessiert ist: an akribischen Lektüren, die die oft beschworene Materialität der Texte gerade dadurch spürbar werden lassen, dass sie durch intelligente und überraschende Suchbefehle deren paradigmatische Verlinkung mit anderen Texten im unendlichen Archiv der Kultur aufzeigen. Als Beispiel für einen derart akribisch vorgehenden "archivanalytischen Strukturalismus" nennt Baßler - auch hier ohne literaturtheoretische Scheuklappen - unter anderem Albrecht Schönes Interpretation von Bürgers "Lenore" aus dem Jahr 1954, in der Schöne die Kontiguität zwischen Bürgers Ballade und dem kulturellen Archiv des protestantischen Kirchenlieds detailgenau herausgearbeitet hat.

Gerade weil Baßlers Buch lediglich solche kleinen, aber feinen Lektüre-Häppchen anbietet, ansonsten aber vor allem extensiv das methodische Rüstzeug (und Problembewusstsein) für solche Lektüren ausbreitet, hat das Buch bei aller Trockenheit der Materie etwas Verlockendes: Man bekommt - ganz im Sinne Roland Barthes' - Lust am (Kon-)Text, Lust also an der Suche nach interessanten Kontiguitätsbeziehungen, Lust aber auch auf all die Theorie-Klassiker, die Baßler überraschenden Relektüren unterzogen hat und ohne die man gerade als textbesessener Positivist einfach nicht glücklich wird.


Titelbild

Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie.
Francke Verlag, Tübingen 2005.
400 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-10: 3772080707

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