Die Aufdeckung

Georges-Arthur Goldschmidts Erzählung "Die Befreiung" schwankt zwischen Autofiktion und autobiografischer Chronik

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Interview aus dem Jahr 2004 deutete Georges-Arthur Goldschmidt auf die Fertigstellung seiner Erzählung "Die Befreiung" voraus. "Das Buch, das man schreiben möchte", so Goldschmidt, "belagert einen. Seit Jahren schreibe ich mühsam an dem letzten Buch in deutscher Sprache, das ich schreiben werde und das den Titel 'Die Befreiung' tragen wird."

Mit dem Wort 'Befreiung' ist nicht allein das Ende der Okkupation Frankreichs durch die Deutschen angesprochen, sondern zugleich eine Entbindung aus der Belagerung des sich aufdrängenden Schreibauftrags. Und die Mühe - das wird sich zeigen - hat ihre Spuren im Text hinterlassen.

Zu befreien vermag sich im Text überdies der Jüngling Arthur selbst, mitten im schier unausweichlich erscheinenden Zirkel der sich wiederholenden körperlichen Züchtigungen. Die Entdeckung des Wunders der Sexualität, das lustvolle Spiel mit dem eigenen Körper eröffnet ihm, paradox genug, einen Bezirk, der ihn der Obrigkeitsmacht der Erwachsenen entzieht, der Gewalt der Bestrafung nach jedem verbotenen und aufgedeckten Akt der Selbstliebe aber zugleich auch wieder aussetzt.

Das Buch "Die Befreiung" umfasst die Ereignisse der Zeit vom September 1944 bis zum Frühjahr 1946. Der sechzehnjährige Arthur Kellerlicht ist nach der Unterbringung bei einem savoyischen Bergbauern zum Schutz vor den deutschen Besatzern wieder zum Internat zurückgekehrt, wo er zuvor fünf Jahre seines Lebens verbracht hat. Frankreich ist befreit, Arthur Vollwaise, zutiefst beschämt darüber, dass er überlebt hat und sich jetzt sogar von der Internatsleiterin bis zum Abitur durchschmuggeln lässt. Er, ein ausgewiesenes Stück "unwerten Lebens", ist fortlaufend Prügelstrafen ausgesetzt, und er hält das nur für gerecht. Ein Nichtsnutz verdient es nicht anders.

"Die Befreiung" knüpft so an Goldschmidts frühere Erzählungen auf Deutsch an, "Die Absonderung" (1991) und "Die Aussetzung" (1996), jedoch ebenso an die auf französisch verfassten "La forêt interrompue" (1991) und vor allem "Le recours" (2005). Wer letztere Erzählung kennt, die bislang noch nicht auf Deutsch erschienen ist, wird feststellen, dass manche Passagen der "Befreiung" sich wie freie Übertragungen aus dem Französischen lesen. Das gilt vor allem für jene Episode der Eisenbahnfahrt nach La-Roche-sur-Foron, wohin die Anstaltsleiterin sich mit Arthur begibt, um zwei deutsche Kriegsgefangene abzuholen. Es bedürfte im Übrigen der genaueren Analyse, warum etwa im deutschen Text eine Innigkeit der geliebten "herrlichen Muttersprache" beschworen wird, "aus der seine Seele bestand", während in der französischen Erzählung diese Attribute gänzlich entfallen, auch nicht vom Deutschen als der Muttersprache gehandelt wird, sondern lediglich von "cette langue souillée à tout jamais" (diese auf ewig besudelte Sprache).

Erstmals taucht in "Die Befreiung" der Gedanke von "Heimat" auf, angesichts des savoyischen Gebirgsmassivs, der Landschaft, auf die der Jüngling gegenüber den beiden Gefangenen stolz ist. Der französische Text setzt in der selben Szene die Worte "chez soi", was so viel wie 'bei sich, zu Hause' meint und die starke Tönung von "Heimat" eher abschwächt. Mit "Die Befreiung" schließt sich ein Kreis. Nicht bloß, dass der Jüngling jetzt Arthur Kellerlicht heißt, wie in der frühen, unübersetzt gebliebenen Erzählung "Un corps dérisoire" (1972); auch der Ausblick auf Paris am Ende der "Befreiung", die nahende Befreiung aus dem Internat, weist voraus - und zurück - auf den Bezug des Waisenhauses in Pontoise. Die erneute Setzung des vollen Eigennamens fügt sich einer Tendenz, welche die vorliegende Erzählung von denen der 1990er-Jahre abgrenzt. Die deutlich spürbare Neigung, Dinge ihrer Unbestimmtheit zu entziehen, sie zu erklären und zu fixieren, äußert sich in der Benennung aller wichtigen Figuren, der Orte, Bücher, Gemälde und möglichst genauen Zeitangaben. Der autofiktionale Charakter, der noch "Die Absonderung" und "Die Aussetzung" auszeichnete, verschiebt sich hin zu einer Art chronique autobiographique, wo zuweilen der Eindruck entsteht, es handle sich bei dem Geschriebenen zunehmend um eine Berichterstattung, der die phantastische Genauigkeit und das Rätselhafte zugunsten des Eindeutigen abhanden gekommen sind - als habe Goldschmidt sich zuweilen nicht enthalten können, autobiografisches Material auch in der Erzählung luzide zu gestalten, wie sonst nur in den Essays oder eben der Autobiografie "La traversée des fleuves" (1999).

Eine Art Aufdeckung ist das, wie das Zurückschlagen der Decke im Schlafsaal, wo die jungen Männer ein klebriges Spiel mit sich selbst veranstalten. Ein Satz wie der folgende wäre in den früheren deutschsprachigen Erzählungen unziemlich gewesen: "1942-1943 war es am schlimmsten gewesen. Brot hatte es kaum noch gegeben, zu 350 Gramm war man berechtigt und zu 72 Gramm Fleisch in der Woche." Momente des Kommentars, die sich gar zu sehr von der Hauptfigur abheben, wirken störend, wiewohl sie ihren Platz in kritischen Essays gut und gerne behaupten mögen. Dazu ebenfalls ein Beispiel: "[...] solche wie ihn, wer weiß, hatten sie vielleicht in Polen oder Rußland mit Genuß niedergesäbelt oder niedergeschlagen, wie es sich gehörte und wie sie wußten, daß es sein sollte, da das Pack doch nicht daseinsberechtigt war, [...]."

Fast könnte man von einem narrativen Über-Ich sprechen, das sich da, und nicht nur dort, hineingemogelt hat. "Die Befreiung" wartet zudem mit etlichen Gallizismen auf, manche davon ganz harmlos und eher als Stilmerkmal ihres Autors zu verzeichnen.

Andere indes hätte man bei allem guten Willen nicht durchgehen lassen dürfen, da sie einen sinnwidrigen Effekt auslösen, die Unverständlichkeit befördern. Selbst aus dem Kontext lässt sich der Sinn eines Satzes wie des folgenden nicht erschließen. "Zugleich schämte er sich, daß er solche Angst hatte und sich zugleich für wichtig genug hielt, als daß man ihn abhole, obwohl dem so war." Und wenn man liest: "Der Anblick der beiden Knaben, die von Mädchen redeten, hatte ihn sonderbar verwirrt, und er stieg im Trubel hinunter, [...]", wird man sich womöglich fragen, was für ein Trubel hier gemeint sein könnte, bis man auf das französische Wort 'trouble' stößt, von Goldschmidt andernorts als schlichtweg unübersetzbar erachtet. "Die Befreiung", dieses nach Kräften dem Vermögen seines Autors abgerungene Buch, ist trotz oder gerade wegen seiner offenkundigen Schwächen ein Text, den man als Leser von Goldschmidts Werken nicht missen möchte. Ob es tatsächlich sein letzter Titel auf Deutsch sein soll, mag dahingestellt bleiben.


Titelbild

Georges-Arthur Goldschmidt: Die Befreiung.
Ammann Verlag, Hamburg 2007.
220 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783250105084

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