The Bold & the Beautiful

9/11 und die Babyboomer: Jay McInerneys süffiger Gesellschaftsroman "Das gute Leben"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der herzzerreißendste Satz in Jonathan Franzens Familienroman "Die Korrekturen" (2001) bezieht sich auf die Kabinenpreise eines Kreuzfahrtschiffes und beklagt, dort ausgerechnet "die allerbilligsten 'B'-Deck-Innenkabinen" buchen zu müssen. Die brave Hausfrau Edit, Anfang 70 und schwer auf Antidepressiva, sitzt auf einem nächtlichen Flur irgendwo im Rumpf des Luxusliners, und "beweint sich selbst": "Sie hatte das Gefühl, sie und Al seien die einzigen intelligenten Menschen ihrer Generation, die es geschafft hatten, nicht reich zu werden."

Die Fallhöhen schrumpfen, die Grenzen weichen auf: Der basso continuo des amerikanischen Gesellschaftsromans - ein scharf beobachtetes Klassenbewusstsein, genau kalibrierte Produktwelten, Rituale und Statussymbole -, steigert sich seit den Neunzigern zu einer heißkalten Panik vor dem Abstieg, einer Art sozialen Kammerflimmerns: Keine diffuse Sorge um die Möglichkeit ("echter", handfester) Armut, sondern schreiend reale Angst vor dem schleichendem Niedergang, vor endlosen Serien kleiner Verzichte. Bei John Updike war das ein rhythmischer Beat irgendwo im Erzählhintergrund. Jetzt ist es eine Tachykardie, die alles überdröhnt.

Jay McInerney hätte solche Sozial-Panik nicht nötig. Geboren 1955, debütierte er in den 80ern mit einem sympathisch schlichten New York-Text: "Bright Lights, Big City", die Geschichte eines melancholischen, (natürlich:) dauerkoksenden jungen Mannes, den Fuß in der Tür zum Verlagswesen, und die Hand eingeklemmt, im Scharnier. Ein warmer, witziger Jugendroman. 2005 traf man McInerney dann auf der Halloweenparty von Bret Easton Ellis. Die beiden versteckten sich zum Koksen im Badezimmer, während Ellis' kleine Tochter nörgelnd vor der verschlossenen Tür stand und auf den Gutenachtkuss wartete. "Lunar Park" hieß dieses literarische Vexierspiel um Realität und Psychose, der (fiktive) Gastauftritt fand ohne das Wissen McInerneys statt. Freund Ellis sagte später, McInerney sei nicht begeistert gewesen, in den fremden Roman gezerrt worden zu sein - bewege er sich doch mittlerweile in ganz anderen Kreisen.

Diese Kreise beleuchtet "Das gute Leben", McInerneys aktueller Roman. Ein satter, weicher Reiche-Leute-Roman, ein Buch für die Kreuzfahrt, die Wellness-Farm, schamlos weit oben auf der sozialen Leiter. Dabei gibt es - anders als sonst bei solchen Schilderungen - fast keine Überzeichnung, Satire- und Entlarvungsabsichten. In "Das gute Leben" erreicht der kalte Wind des Börsencrashs kurz vor dem 11. September auch das New Yorker Großbürgertum. Und McInerney kriegt es überzeugend hin, die nagenden Mietpreis- und Wohnungssorgen von Leuten plastisch zu machen, bei deren Dinnerpartys auch gern mal Salman Rushdie zur Tür hereinschneit. Innenansichten von Familien also, die man sonst immer nur aus der Froschperspektive zu sehen bekommt, missgünstig zernörgelt oder doof-romantisiert.

Es geht um zwei Ehepaare: die reichen Calloways (Russell ist Lektor, Corinne arbeitet an einem Drehbuch zu Graham Greenes Ehebruchsroman "Das Herz aller Dinge", die beiden haben zwei kleine Kinder und ein Loft in TriBeCa) und die superreichen McGavocks (Anwalt Luke, im Moment Stay-at-Home Dad, Millionenerbin Sasha, daheim in den Klatschspalten, und Tochter Ashley, die gerade in ihre erste Essstörung/Drogensucht schlittert). Man sieht sie schon beim Lesen vor sich, die Mittvierziger-, und Mittfünfziger-Actricen, die in einer Verfilmung des "guten Lebens" in schlicht geschnittenen, sauteuren Kleidern Haltung bewahren, während Türme fallen und Herzen brechen: Dana Delaney, Sela Ward, Kristin Scott Thomas. Reiche, schöne, sympathische Leute!

Der 11. September (den McInerney elegant ausspart), bringt Corinne und Luke in einer Suppenküche am Gramercy Park zusammen. Während für ihre Ehepartner das Leben rasch wieder die alten Bahnen zieht, retten sich die beiden Familienmenschen mit karitativer Arbeit durch einen völlig konfusen New Yorker Herbst. Und kommen sich, klar, immer näher. Gut, dass sich McInerney dabei schier endlos Zeit nimmt, die beiden zu charakterisieren: Zwei rundweg überzeugend gezeichnete Erwachsene, emotional stabil, psychologisch komplex, wunderbar plastisch (und, auch das: toll geschmackssichere, recht harte Sexszenen!).

McInerney selbst ist gerade in vierter Ehe mit der Schwester von Patty Hearst verheiratet. Seine vorherigen Partnerinnen: Models, Autorinnen, eine Schmuckdesignerin. Nach dem 11. September arbeitete er einige Wochen lang in einer Suppenküche, und er tut sich einen großen Gefallen damit, Biografisches an Fiktion, Realismus ans Romanhafte zu ketten: dem Roman fehlt der Pathos und das Selbstmitleid eines biografischen Textes, und trotzdem bleibt's angenehm anschaulich. Kluges Setting, kluge Figurenpsychologie.

Nur ist McInerneys Buch dabei keines, bei dem sonderlich viel auf dem Spiel steht. Die eindrucksvollsten 9/11-Texte balancierten auch literarisch immer am Rand des Greif- und Machbaren, luden sich viel zu viel auf: Frédéric Beigbeders "Windows on the World", Else Buschheuers freches "www.else-buschheuer.de", auch Safran Foers "Extrem laut und unglaublich nah" - das überforderte die Leser, die Autoren, mit mutigen Rissen und Fehlern und Verletzlichkeiten. McInerney dagegen weiß ganz genau, was er kann: Routiniert und warm und menschlich spielt er auf der Gefühlsklaviatur, so gekonnt wie jedes durchschnittliche Hollywood-Drama.

Und genau dorthin schmiert es dann auch plötzlich ab, auf den letzten 150, 170 Seiten: In Szenen, in denen die Figuren Thanksgiving in der Provinz feiern und auf dem Pferderücken die einfachen Freuden des Familienalltags erinnern. In Szenen, in denen alles herbstgelb leuchtet und nach Apfelkuchen riecht und Sätze fallen wie: "I keep imagining that there must be somebody who walked away from those towers and just decided to keep walking. Start a new life. Sometimes I wish it were me." Und so wandelt sich "Das gute Leben" doch noch zur Genre-Literatur, zum Wohlfühl-Roman für den gehobenen Mittelstand. Stilsicher und vergnüglich, aber künstlerisch irgendwo zwischen dem "Pferdeflüsterer" und "Brücken am Fluss". Zielgruppen-Literatur, weit weg vom Wahnwitz und den Tabubrüchen (zum Beispiel) Bret Easton Ellis'.

Kurz nach dem vierten Jahrestag, am 17. September 2005, veröffentlichte McInerney ein Plädoyer für den (großen, der immer komplizierter werdenden Gegenwart gerecht werdenden) Roman in "The Guardian". Er schloss mit einer Anekdote: Am Freitag, den 15. September 2001, sei er zufällig Jungautor Jonathan Franzen im sonnigen Central Park begegnet. "Der arme Kerl", sagte McInerney später zu seiner Begleitung, "Keiner wird sich dieses Jahr für Romane interessieren." Doch es kam anders, schließt McInerney seinen Essay freudig überrascht. "Die Korrekturen" wurden der Publikumserfolg des literarischen Herbsts 2001.

"Das gute Leben" indes bietet wenig Reibefläche, kaum Sätze, die man behalten wird: "Lasst uns zu Großmutter auf die Farm fahren, da ist die Welt noch in Ordnung!", das ist doch keine Antwort! Keine Lösung! Sondern schnöselige "...dann sollen sie doch Kuchen essen!"-Rhetorik. Denkt man wirklich so, in Amerika? Im Bauch des Ozeanriesen, heulend, weil man sich keine Kabine mit Meerblick hat leisten können? Und gerade voll gegen den Eisberg gebollert ist? Mehr gibt es nicht zu erzählen?


Titelbild

Jay McInerney: Das gute Leben. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.
448 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783462039184

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