Marcel Reich-Ranicki 80 Jahre alt

Vier Neuerscheinungen künden vom Leben und von den Vorlieben des großen Literaturkritikers

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist der Erfinder und Star des "Literarischen Quartetts"; er gilt als Meister des apodiktischen Urteils; er versteht es, zu polarisieren; er verbindet eine umfassende abendländische Bildung mit dem Mut zur Lücke; er weiß zu unterhalten und die literarische Welt in helle Aufregung zu versetzen. Viele Autoren verdanken ihm viel, wenn nicht alles; andere grollen ihm, weil er sie zeitlebens ignoriert hat - keinem ist er gleichgültig.

Als Initiator des Klagenfurter Bewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis hat er den literarischen Schaukampf fernsehtauglich gemacht. Zahllose Veröffentlichungen säumen seinen publizistischen Weg: die Essays und Essaysammlungen "Deutsche Literatur in Ost und West" (1963), "Zur Literatur der DDR" (1974), "Thomas Mann und die Seinen" (1987), "Zwischen Diktatur und Literatur" (1987) - um nur einige zu nennen; die gesammelten Rezensionen "Lauter Verrisse" (1970), "Lauter Lobreden" (1980); die gesammelten Aufsätze, Reden und Rezensionen über Thomas Bernhard (1990), Max Frisch (1991), Günter Grass (1992), Martin Walser (1994), Vladimir Nabokov (1995), Wolfgang Koeppen (1996), Bertolt Brecht (1996); die zahllosen herausgegebenen Bücher, darunter die verdienstvolle "Frankfurter Anthologie" (seit 1976).

Aus der "Frankfurter Anthologie" hat er soeben noch einmal ein Lese- und Interpretationsbuch aus hundert Gedichten des 20. Jahrhunderts zusammengestellt. Große Lyriker treffen hier auf bedeutende Interpreten: Michael Krüger interpretiert Karl Kraus, Peter von Matt Hermann Hesse, Paul Celan und Ingeborg Bachmann, Karl Krolow liest Ulla Hahn und Wolfgang Werth Bert Brecht, Günter Grass und Erich Kästner. Der Meister selbst hat sich Gedichte von Günter Kunert ("Frist") und Bert Brecht ("Als ich nachher von dir ging") vorgenommen - "voll Neugier zu dem nackten Paar".

Golo Mann, einer der letzten großen Konservativen, sah es ungern, dass Marcel Reich-Ranicki in seiner Frankfurter Anthologie auch Gedichte des "Polizistenmörders" Peter Paul Zahl interpretieren ließ: "Verehrter Herr, wie konnten Sie die bisher doch so gelungene `Frankfurter Anthologie´ verunzieren und das elende Zeug jenes Polizistenmörders bringen, zusammen mit dem entsprechenden Kommentar des Herrn [Erich] Fried? Ne comprends pas. Ich verstehe die Welt nicht mehr." (Brief vom 26.5.1976) Marcel Reich-Ranicki, auch dies eine seiner Qualitäten, reagiert umgehend und mit einem literarischen Zitat: "Was das Gedicht des Polizistenmörders betrifft, ich glaube, der Satz stammt von [Oscar] Wilde, dass damit, dass einer seinen Wechsel nicht bezahlt, noch nicht bewiesen sei, dass er schlecht Geige spielt." (31.5.1976) Für Marcel Reich-Ranicki zählt allein die literarische Qualität. In Fällen jedoch, in denen die Literatur durch Gesinnung, Ideologie oder andere Sekundärmomente bestimmt wird, kennt er kein Pardon. Das rezensiert er nicht, das nimmt er gar nicht wahr. Den Historiker Golo Mann hat Marcel Reich-Ranicki 1974 für das Literaturblatt der Frankfurter Allgemeinen gewinnen können. Damals galt es, die Autobiographie Heinrich Manns, "Ein Zeitalter wird besichtigt", rezensieren zu lassen. Golo Mann sagte zu und es entwickelte sich eine immer intensiver werdende Arbeits- und Freundschaftsbeziehung zwischen den beiden.

Golo Mann wurde 1909 geboren, Marcel Reich-Ranicki elf Jahre später - in Wloclawek an der Weichel. Aufgewachsen ist er in Berlin, von 1940 bis 1943 lebte er im Warschauer Ghetto. 1958 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über und lebte zunächst in Hamburg. 1958 war er zum ersten Mal zu einem Treffen der Gruppe 47 eingeladen - und war bald aus der `In-group´ der Kritiker nicht mehr wegzudenken. Von 1960 bis 1973 war er Mitarbeiter der Wochenzeitung "Die Zeit"; 1968/69 lehrte er an amerikanischen Universitäten; 1971 und 1975 war er Gastprofessor an den Universitäten Stockholm und Uppsala; seit 1974 ist er Honorarprofessor in Tübingen; 1973 holte ihn Joachim C. Fest zur ›Frankfurter Allgemeinen‹, deren Redaktion für Literatur und literarisches Leben er bis 1988 leitete.

Von seiner wechselvollen Biographie und seinen literarischen Fixsternen, zu denen auch die Familie Mann zählt, hat er selbst in seiner Autobiographie "Mein Leben" (1999) Zeugnis abgelegt. Nun hat Frank Schirrmacher, Joachim C. Fests Nachfolger auf dem Stuhl des Herausgebers der "Frankfurter Allgemeinen", die illustrierte Variante "Sein Leben in Bildern" herausgegeben. Erstaunlich, dass aus der Frühzeit dieses wechselvollen Lebens überhaupt Bilddokumente gerettet werden konnten: Der Dreijährige, der Neunjährige, der Sechzehnjährige im Ferienlager von Swinemünde. Dazu das Foto des gebrechlichen Großvaters, dem alten Freud ähnlich, würdevoll mit weißem Bart. Sowie Aufnahmen von Teofila Langnas und ihren Eltern, der Frau und Lebensgefährtin bis in die späten Tage. Und weiter dann, weniger verwunderlich, die zahlreichen Gemeinschaftsaufnahmen mit Autoren: Von den Treffen der Gruppe 47 über die Ingeborg-Bachmann-Tage in Klagenfurt bis hin zu den Kritikerempfängen bei Siegfried Unseld.

Die "Spiegel"-Titel bilden eine eigene Serie in diesem Band, die wichtigsten Buchcover sind auf einer Doppelseite zu sehen, Bilder von Michael Mathias Prechtl und Friedrich Dürrenmatt malen ein wenig freundliches Bild des "Rezensenten". Unter den zahllosen Aufnahmen, die eine gelebte, persönliche Literaturgeschichte illustrieren, seien einige hervorgehoben: Die Aufnahmen mit Ulrike Meinhof (1967); die Bilder mit dem blutverschmierten Rainald Goetz (1983); die Fotos mit Koeppen. Marcel Reich-Ranickis berühmter Text "Der Fall Wolfgang Koeppen" aus dem Jahre 1961 ist hier noch einmal abgedruckt: "Ein Lehrbeispiel dafür, wie man in Deutschland mit Talenten umgeht".

Dafür ist auch Heinrich Heine ein Beispiel. 1991/92 hatte Marcel Reich-Ranicki die Heinrich-Heine-Gastprofessur der Universität Düsseldorf inne. Pünktlich zum 80. Geburtstag hat der Deutsche Taschenbuch Verlag sein Buch "Der Fall Heine" neu herausgebracht. Der Band ist ein gutes Exempel für Marcel Reich-Ranickis literaturkritische Praxis. Er versammelt drei locker gestrickte Essays aus den Jahren 1972, 1986 und 1991, die Heine als "ein Stück Weltliteratur in deutscher Sprache" interpretieren. Geistreich, böse und komisch sei sein Werk, eine "Synthese aus Witz und Weisheit, Charme und Scharfsinn, Gefühl und Grazie". Heine sei der erste große Poet, der den Humor zur "selbstverständlichen Komponente" seiner Poesie und Prosa gemacht habe. Der Autor holt weit aus, um Heine gebührend zu platzieren: Zu Heines Nachahmern und Schülern zählt Reich-Ranicki so unterschiedliche Autoren wie Wilhelm Busch, Detlev von Liliencron und Arno Holz, Frank Wedekind und Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Klabund und Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf und Wolf Biermann. Zur Charakterisierung des Verhältnisses seines Schülers und Jüngers Karl Kraus zum Lehrer und Meister Heine erfindet er gar einen neuen Terminus technicus: die "ödipale Rebellion".

Marcel Reich-Ranicki attestiert Heine "Volkstümlichkeit". Und diese Volkstümlichkeit prägt auch sein eigenes literaturkritisches Selbstverständnis. Ad multos annos, kann man da nur wünschen.

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Der Fall Heine.
dtv Verlag, München 2000.
128 Seiten, 7,40 EUR.
ISBN-10: 3423127740

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Titelbild

Marcel Reich-Ranicki / Golo Mann: Enthusiasten der Literatur. Briefwechsel.
Herausgegeben von Volker Hage.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
250 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3100628136
ISBN-13: 9783100628138

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Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Hundert Gedichte des Jahrhunderts.
Insel Verlag, Frankfurt 2000.
600 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 345817012X

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Titelbild

Frank Schirrmacher: Marcel Reich-Ranicki Sein Leben in Bildern.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000.
300 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3421053200

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