Nach dem Gugelhupf

Linda Stifts Roman "Stierhunger" gibt Einblick in die Gedanken einer Bulimiekranken

Von Kay ZiegenbalgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Ziegenbalg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die österreichische Autorin Linda Stift hält nichts davon, wenn Buchumschläge den Romanfiguren ein Abbild aufzwingen. Daher war ihr erster Roman "Kingpeng" mit einer Tube verziert. Tomatenmark, erfuhr man später, war nämlich das Geschäft der Protagonisten. Abgesehen davon befasste sich "Kingpeng" mit einem unmöglich skurrilen Geschwisterpaar, reichen Nachbarn und einer Leiche. Nun wäre das nichts Besonderes gewesen, hätte Linda Stift nicht eine interessante Erzählweise vorzuweisen.

Mit "Stierhunger" legt sie ihren zweiten Roman vor - und der ist nicht weniger kurzweilig als der erste. Es ist eine Groteske über Verlangen, Besitz und Macht in allen Ausprägungen von besessen bis wehmütig. Er ist situiert in einer Frauenwelt, in der Männer nur als Ikonenmörder und ausgehaltene Liebhaber vorkommen. Die Handlung spielt sich in keiner konkret bezifferten Epoche ab. Die Ausstattung und das Wesen der Hauptfigur sprechen für die Nähe zur Gegenwart. Das vorangestellte, bekannte Motto von Max Liebermann lautet: "Ick kann ja nich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!" und stammt aus dem Jahr 1933.

Ein schöner Anstoß für Interpretationen. Denn wer könnte dieses Datum übergehen? Ziehen wir den Schluss: "Stierhunger" stellt überzeitliche Konflikte zur Schau und überlässt uns das Übrige. Erzählt wird aus der Sicht einer jungen bulimiekranken Frau, deren 15jährige Abstinenz von den Fressorgien ein plötzliches Ende findet: wegen eines halben Gugelhupfs; angeboten von einer wildfremden Frau, die sich als herrschsüchtige Reinkarnation der Kaiserin Sissi entpuppt. Diesmal durfte die Kaiserin sogar auf den Buchumschlag. Aber das war es glücklicherweise auch schon mit den großen Veränderungen.

Mit dieser alten Dame und der Dienerin Ida muss die Protagonistin Reliquien aus Sissis Zeit und Leben stehlen gehen. Darunter eine Entenpresse und die persönlich kaiserliche Kokainspritze. Ein ander Mal lautet der Befehl, ein Sissi-Denkmal zu sprengen, und die irrwitzigste Aufgabe besteht darin, den konservierten Kopf des Mannes, der Sissi mit einer angespitzten Feile erstach, in das Sissi-Museum zu befördern. Der Kopf wird dort heimlich in der Ausstellung platziert, denn die Kuratoren verweigerten ihn stets der Öffentlichkeit. Muss sie das alles mitmachen?

Es sieht ganz so aus. Die alte Dame, Frau Hohenembs, verfügt über weitreichende Kontakte und verunmöglicht es ihren beiden Untergebenen, zu fliehen. Dazu gibt es nicht viele Erklärungen im Text. Aber es gibt etwas, das hier Verständnis stiften kann: Die Autorin beruft sich ausdrücklich auf Franz Kafka. Das ist schon starker Tobak. Aber nur weil die Kritik sich den Kafka-Vergleich lieber zu verkneifen hat, kann es ja nicht der Autorin zum Schaden sein, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Text versetzt nun aber Lesende in die Situation Josef K's. Ein Dahintreiben in Unausweichlichkeit. Denn die Ich-Erzählerin (und es ist tatsächlich immer die selbe) simuliert in ihren Gedanken die Kontrolle über ihre Lage. Sie ist die Gefangene der sie umgebenden Missverständnisse; nicht minder der rhetorischen Unterbegabung ihrer Mitmenschen. Besonders spannend, und das ist bei Kafka nicht weniger der Fall, ist "Stierhunger" eigentlich nicht.

Daneben erzählt eine weitere Ich-Erzählerin aus der Perspektive einer ungarischen Dienerin über ihre Wahrnehmungen der Herrin; vermutlich die Kaiserin Sissi. Die Dienerin spricht von ihr als "geliebter Engel" in so ziemlich allen Varianten, die das Ungarische für diese Wendung hergibt. Der Zusammenhang zur ersten Erzählebene scheint hier nur zu sein, dass in beiden Durchgängen des gleichen Motivs das Hinterfragen ausbleibt und damit ein Weg zu den Ursachen verbaut wird.

Statt dessen ist hier eine eingehende Innensicht einer Bulimiekranken gelungen, die mit Sätzen wie "Ich überlegte, ob ich kotzen sollte, doch das Picknick war zulange her" oder "das Fressen und Kotzen schabt und kratzt einen leer, aber es bleiben Rückstände" etwas Fesselndes hat. Aber nicht das, was ihr geschieht. Dass die Figur tatsächlich gegen ihre Lebensumstände aufbegehrt, ist nur ganz am Rande als einer dieser Rückstände ihrer selbst in Betracht gezogen; alle Versuche aber scheitern ebenso plötzlich wie sie unternommen werden. Doch immer enger wird hier Handlungsspielraum, bis sie schließlich zeitgleich mit dem Text aufgibt. Sprich: Sie übernimmt die Rolle Idas, die der Hohenembs zu alt geworden ist. Aber da taucht schon die nächste dürre junge Frau auf - einen halben Gugelhupf in der Hand. Gekonnt bildet der Text ab, wie logisch der Wahnsinn eigentlich sein kann; wie kunstvoll und wie streng reguliert er gepflegt sein will, was ihn so schrecklich normal erscheinen lässt. Mitten in der Idylle am Kaffeetisch heißt es lapidar: "Ihre Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgebissen." Und nichts weiter. Diese haushaltende Vorgehensweise zeichnet sich anhand vieler ersichtlich funktionsloser Details ab, die sich überwiegend auf die Beschreibung der Umgebung beziehen. Das sind im Einzelfall unmotivierte Erwähnungen; völlig zufällig. Die durchdachten Obsessionen der Figuren werden jedoch regelmäßig von solchen Zufällen ausgelöst. Somit wurde hier daran gedacht, den verrückten Figuren eine intakte Welt zur Seite zu stellen, die das Feld der Hoffnung beherbergen kann. Ohne dies verschwände der Roman sicher frühzeitig im Regal.

Das Reich der Hohenembs, eine detailversessene Wohnung voller Kunstkrempel und der schon erahnten K. u. K. Devotionalien entpuppt sich als erschreckend gemütlich, und alles hängt hier von der Gnade dieser hassenden Übermutter ab. Das Problem der Protagonistin ist, dass alle mit ihr machen können, was sie wollen. Zur literarischen Kunstübung wird dieser Zustand aber nur, weil das Wollen hier abgeschafft ist. Weiß der Geier, welche Regungen dieses durchgeknallte Ensemble antreiben. Erst als sich die Erzählerin - natürlich nach Aufforderung der Hohenembs - auf einem Sissi-Lookalike-Wettbewerb wieder findet, muss sie sagen: "Sie hatten mich so weit gebracht, dass ich mich aus eigenem Antrieb danach sehnte und mich bereits als gefeierte Ballkönigin sah." Sie gewinnt den Wettbewerb und wird vor aller Augen gegen Veilchenpralinen aufgewogen. Dies absolviert sie merkwürdigerweise ohne größere Probleme. Sie rechnet zwar etwas herum, um sich zu vergewissern, dass sie unter 50 Kilo liegt. Aber sonst verfährt sie in der ihr eingeschriebenen bewusstlosen Folgsamkeit: Bedrückend. Um mit Kafka zu schließen: "Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt." Aber in diesem Roman ist es einmal mehr auch lesenswert geworden.

PS: In dem Roman wird ja viel gegessen. Manches auch zweimal. Er eignet sich daher nicht unbedingt als Zuglektüre für den Weg zu einer Familienfeier. Und ein Detail am Rande: das schöne Wort "Esssaal" ist sicher eines der ganz offenbaren Opfer der Rechtschreibreform. Es sieht ja nur noch aus wie ein bedeutungsschwangerer Tippfehler.


Titelbild

Linda Stift: Stierhunger. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007.
171 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552060685

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