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Werner von Koppenfels' lehrreicher und unterhaltsamer Blick auf "Das Vermächtnis des Menippos in der europäischen Literatur"

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Definitionen und Geschichten literarischer Gattungen gehören nicht zu den einfachsten Übungen des Literaturwissenschaftlers. Zwar lassen sich in vielen Fällen anhand poetologischer Schriften und den Texten selbst Gattungsmerkmale formulieren und zusammenfassen, die für eine historisch und systematisch ausgerichtete Gattungsdarstellung die Grundlage bilden, doch stellen nicht zuletzt die einer Vereinheitlichung widerstrebende Vielfalt der historischen Überlieferung und die meist erstaunliche 'Beweglichkeit' innerhalb bestimmter Textgruppen den Wissenschaftler vor erhebliche Schwierigkeiten.

Von solchen Problemen spürt man bei der Lektüre von Werner von Koppenfels´ jüngst erschienener Monografie "Der andere Blick oder das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe Perspektiven in der europäischen Literatur" wenig. Dabei sind die Voraussetzungen für eine monografische Darstellung der Menippei´schen Satire (satura menippea) alles andere als günstig zu nennen. Denn so wenig wir über den namensgebenden Gründer der Menippea, jene "schattenhafte Figur" des kynischen Philosophen Menippos von Gadara, dessen Lebens- und Wirkenszeit in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts vor Ch. fallen, wissen, so wenig ist auch von seinem Werk erhalten geblieben, das nur noch mit fragmentarischen Stücken etwa einer satirischen Hadesfahrt, eines Symposions, satirischer Testamente, Götterbriefen und Schriften gegen Naturphilosophen und Grammatiker vorliegt.

Freilich ergibt sich daraus, wie Koppenfels völlig zurecht meint, wenn nicht ein "Gattungsprofil", so doch wenigstens der Schattenriss einer Gattung, die allerdings für heutige Leser weit weniger mit ihrem mythischen Namensgeber als vielmehr mit seinen eifrigsten Nachfolgern, den römischen Dichtern Varro, Lukian und Seneca, in Zusammenhang gebracht wird, aus deren bekannten Werken Koppenfels im ersten Kapitel auch jene Merkmale und Motive der Menippea ableitet, die für die seine folgenden Betrachtungen erkenntnisleitend und strukturbildend sind.

Dazu rechnet Koppenfels die "mythenparodistischen Züge", den "Einspruch gegen die fruchtlose Jagd nach Wissen", die "Parodie ernsthafter Diskurse z.B. der Juristerei oder der platonischen Gastmahls-Philosophie", die "Inszenierung einer paradoxen Situation" und den "Fremdblick auf die Welt als olympische oder unterweltliche Perspektive". Mikrostrukturanalysen und -interpretationen der vorgestellten Texte - und das sind nicht wenige - sind indessen seine (erklärte) Sache nicht, da es Koppenfels darum geht, die großflächigen und aus seiner Sicht maßgeblichen Menippei´schen Fiktionsmuster - Totengespräch, komische Seelenwanderung und Tierperspektive - sichtbar zu machen. Für seine "Herabschau auf einen intrikaten Gattungskomplex" bilden daher auch die einzelnen Bestandteile jener Muster wie "Phantastik, figurative Tendenz, ironischer Witz, Paradoxie als Ideologiekritik, antilineares Erzählen, Sprach- und Stilmischung als Ausweis von sprachkritischem Bewußtsein" immer wieder die Folien, die auf die verschiedenen Texte aufgelegt werden, die dadurch neue Betrachtungsperspektiven eröffnen und die Werke in den Kontext beziehungsweise die Tradition der Menippea rücken, die man bislang mit ihnen nicht in Verbindung gebracht hat.

Die an vielen Stellen des Buches zu beobachtende, nicht immer präzise Trennung von Schreibweisen, Motiven oder gattungstypologischen Merkmalen hat vor allem damit zu tun, dass von Koppenfels gar keine Gattungsgeschichte der Menippea hat schreiben wollen, sondern vielmehr Menippei´schen Reflexen, also einer spezifisch satirischen Schreibweise, in Texten von der Antike und der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart im europäischen Horizont nachspürt. Leicht hätte daraus ein Fallstrick werden können, aus dem der Münchner Emeritus aber ein schönes und lesenswertes (Narren-)Seil der Menippea-Tradition geflochten hat, an dem sich der Leser nicht zuletzt aufgrund der ausgesprochen erfrischenden Darstellungsweise gerne durch die Weltliteratur führen lässt.

Der Untertitel des Buchs - "paradoxe Perspektiven in der europäischen Literatur" - ist insofern wörtlich zu nehmen und wird auch eingelöst, als von Koppenfels ausgehend von Northrope Fryes und Michail Bachtins "weitgefaßtem Konzept der Menippea" diese mehr als Schreibprinzip denn als historische Gattung versteht und es ihm daher um eine Menippei´sche Lesart bekannter und unbekannter Werke aus diesem Blickwinkel heraus geht.

Herausgekommen ist dabei eine Arbeit, die mit ihrem Apparat sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, als auch von der Stringenz der Gedankenführung ein breiteres Publikum anspricht und es im besten Sinne belehrt und unterhält - was nicht zuletzt tatsächlich neugierig macht, Texte wieder oder zum ersten Mal zu lesen. Beispielhaft hierfür ist etwa das im 3. Kapitel im Kontext des satirischen Totengesprächs unter der Überschrift "Tod und Gericht, Himmel und Hölle. Vom Witz der letzten Dinge" neben Lukians "Höllenfahrt des Menippos" und Erasmus' spätem Stück "Charon" (1529) behandelte und erst kürzlich wieder aufgefundene "Totengespräch zwischen Madame de Pompadour und der Jungfrau Maria" von Friedrich II., "in dem Maria in eine Reihe mit der professionell so überaus erfolgreichen französischen 'Dirne' gestellt wird".

Wenn es auch nicht immer leicht ist, Koppenfels' Perspektivwechseln zu folgen - was gerade bei nun wirklich ausgesprochen populären, deshalb freilich nicht minder interessanten Texten wie Kafkas "Verwandlung" schwerfällt - so liegt das Überzeugende und Einnehmende und zumal nie Langweilige von Koppenfels' Überlegungen zu einer "motivisch geordneten Textreihe" darin, dass er die Texte und Textpassagen auch literarhistorisch verortet und ihren sozial-geschichtlichen, historischen und funktionalen Publikationsrahmen wenigstens knapp skizziert. Ob im Kapitel zur klassischen Herabschau (Katáskopos) mit Lukians "Charon" und Luis Vélez Guevaras "Der hinkende Teufel", beim Blick auf die Mächtigen vor der Himmelstür - auch im Himmel ist die Hölle los - mit Senecas berühmter "Verkürbissung des göttlichen Claudius", vom tierischen Standpunkt aus mit dem 4. Buch von Swifts "Gullivers travels" oder im Horizont der abendländischen Utopie: Koppenfels versteht es, einen Menippei´schen Rezeptionshorizont zu (re-)konstruieren, der in jedem Fall intellektuell äußerst anregend wirkt. Damit schließt Koppenfels an seine Publikationen der letzten Jahre an und schöpft aus einem Fundus langjähriger und intensiver Forschungen, aus denen heraus zuletzt eine lang erwartete Neuausgabe und -übersetzung von Robert Burtons "Anatomie der Melancholie" und eine vielbeachtete Ausgabe der Dichtungen von Emily Dickinson hervorgegangen sind, die beide mittlerweile schon in der dritten Auflage vorliegen. Auch für die nun erschienene Monografie mag man sich eine breite Rezeption wünschen, da in Deutschland solch gleichsam lehrreiche und - nicht nur dem Gegenstand geschuldete - unterhaltsame Bücher nicht jeden Tag auf den Markt kommen.


Titelbild

Werner von Koppenfels: Der andere Blick. Das Vermächtnis des Menippos in der europäischen Literatur.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
320 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406556777

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