Die Bibliothek und die Welt

Alberto Manguels "Bibliothek bei Nacht"

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann uns Alberto Manguel denn noch etwas Neues erzählen? Nach "Eine Geschichte des Lesens", "Bilder lesen" und "Tagebuch eines Lesers"? Nach all den Lese- und Romanverführern, Bücherwelten und Bibliomanen-Bekenntnissen, die den Buchmarkt überschwemmen? Ja, kann er. Und zwar, weil er aus jeder persönlichen Erfahrung eine spannende und informative Geschichte macht, in die sein Wissen aus den unterschiedlichsten Bereichen und den Literaturen der zahlreichen Sprachen, die er beherrscht, einfließt. Darin liegt der Unterschied der Bücher dieses Universalgelehrten zu denen, die lediglich einen Trend bedienen.

Gleich im ersten Kapitel, das die Bibliothek als Mythos zum Thema hat: Die Beschreibung seiner Bibliothek - auf einem Hügel nahe der Loire - wird zur Geschichte dieses Ortes: hier stand zunächst ein römischer Tempel, dann eine christliche Kirche, ebenso gab es hier einen Friedhof, und residierte dort ein grausamer Minister König Ludwigs des XI. Soviel zu den Mythen dieses Ortes. Mythisch erscheint jedoch auch das Gebäude an sich, in dem tagsüber die Vernunft waltet und nachts die Stimmen der einzelnen Bücher zu vernehmen sind. Natürlich ist hier wieder ein Mythos zum Greifen nah: Das Stimmengwirr in Babel. Und Manguel bekennt: Die Sehnsucht, alle Sprachen Babels zu verstehen, sowie die Sehnsucht, alle Bücher Alexandrias zu besitzen, bestimmten den Aufbau seiner persönlichen Bibliothek. An Alexandria anknüpfend erläutert er - nebenbei auf den nach wie vor aktuellen Erinnerungsdiskurs verweisend - wie sich das "Handwerk des Lesens" "gegen die Zwänge der Zeit stemm[t], indem es Bruchstücke der Vergangenheit in die Gegenwart hereinholt".

Der Ordnung der Bibliothek - oder auch der das Weltwissen ordnenden Bibliothek - ist ein anderes Kapitel gewidmet. Welcher Büchersammler kennt das Problem der Systematisierung nicht? Die Geschichte über alphabetische Methode und das Dezimal-System (und Leben) Melvil Deweys verbindet Manguel kongenial mit eigenen Erlebnissen, die manchem Leser bekannt sein dürften. So entdeckt er bei einem Bekannten Arthur Rimbauds "Le bateau ivre" unter der Rubrik Segeln und im Katalog der Library of Congress die Unterkategorie Fledermausberingung. Die Dezimalmethode hat ebenfalls so ihre Tücken: Sie "lässt die Buchrücken ein wenig aussehen wie die Nummernschilder nebeneinander geparkter Autos." Ausführlich beschreibt Manguel das Bibliothekssystem Aby Warburgs. Die Bücheranordnung folgt Assoziationen, die Trennung von Bild und Wort wird aufgehoben, gleichzeitig wirkt dieses System labyrinthisch, weil die Assoziationen vom Außenstehenden nicht aufzulösen sind. So manch einem wurde zwischen den Regalen dieser Bibliothek schwindlig.

Neben der realen Bibliothek gibt es immer auch eine Schattenbibliothek. Sie besteht aus den nicht aufgenommenen Büchern, sei es, weil sie nicht in die zugrunde liegende Systematik passen, sei es, weil sie der Zensur zum Opfer fallen. (Ein besonders absurdes Beispiel von Zensur sei hier wiedergegeben: der japanische Kulturminister ließ "Pinocchio" verbieten, weil seiner Meinung nach im Buch eine angeblich blinde Katze und ein angeblich gelähmter Fuchs ein negatives Bild von Behinderten zeichneten.) Doch nie sind diese verbotenen Bücher völlig eliminiert, der suchende Leser findet immer einzelne Werke, oder häufiger Textpassagen, die der Zensur entgangen sind und auf die Schattenbibliothek verweisen. Dies erinnert an eine Passage aus der Autobiografie Marcel Reich-Ranickis, der beschrieb, dass man nach der Bücherverbrennung in den öffentlichen Bibliotheken, die Titel der aus dem Verkehr gezogenen Bücher mit roter Tinte durchgestrichen hatte. So erfuhr er, was er lesen wollte: die Bücher Manns, Döblins, Feuchtwangers und Tucholskys. Ebenfalls aus Reich-Ranickis Biografie erfährt man einiges über die überlebenswichtige Funktion von Literatur, vom Erzählen im Getto. Ähnliches schildert Manguel: In Block 31 des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau kursierte eine "Kinderbibliothek", bestehend aus acht bis zehn Büchern. Andere Bücher wurden ausschließlich mündlich tradiert. In Bergen-Belsen kursierte ein Exemplar von Thomas Manns "Zauberberg" und bescherte einem Jungen täglich eine Stunde fern der grausamen Realität.

Dass die Zeiten der Zensur nicht vorbei sind und Bücher immer noch und immer wieder als gefährlich erachtet werden, erschließt sich, wenn - wie Manguel schreibt - der amerikanische Patriot Act die Überwachung des Leihverkehrs öffentlicher Bibliotheken ermöglicht; was zur Folge hat, dass in vorauseilendem Gehorsam viele Bücher dort erst gar nicht mehr angeschafft werden. "Mag sein, dass es auf der ganzen Welt kein Buch gibt, egal wie gut geschrieben, das auch nur ein Quäntchen von dem Schmerz im Irak oder in Ruanda vertreibt, aber ebenso mag es sein, dass es kein Buch gibt, egal wie schlecht geschrieben, das für den Leser, für den es bestimmt ist, keine Enthüllung ist."

Immer wieder geht es im vorliegenden Buch nicht nur um individuelles Leseglück, sondern um Eingriffe in die Freiheit des Lesens - bei den amerikanischen Schwarzen der Nachkriegszeit, in Nazi-Deutschland, in Afghanistan oder in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September. So stellt die "Bibliothek bei Nacht" auch ein Plädoyer für die Demokratie dar. Manguel ist kein weltfremder Gelehrter, sondern jemand, der sein Wissen nutzt, um die Gegenwart zu erhellen. Und eine bessere Daseinsberechtigung für Bücher gibt es wohl nicht.


Titelbild

Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht.
Übersetzt aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
399 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783100487506

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