Ikonoklastischer Furor

Über Jules Barbey d'Aurevillys "Gegen Goethe"

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kanonisierung Goethes als Klassiker und nationale Ikone hat immer auch Gegner auf den Plan gerufen, die der nicht selten weihevollen Verehrung des großen Weimaraners ihren wütenden Protest entgegensetzten. Nach einem solchen Störenfried im Chor der Klassikerbegeisterten haben die Herausgeber und Beiträger des vorliegenden Bandes Ausschau gehalten - und sind im Frankreich der dritten Republik fündig geworden.

Jules Barbey d'Aurevilly, royalistischer Katholik, exzentrischer Konservativer und Verfasser einer moralistisch-misogynen Novellensammlung mit dem Titel "Les Diaboliques", hat in den Jahren 1872/73 eine Anzahl Artikel für den konservativen "Constitutionnel" verfasst, die allesamt ein Ziel verfolgten: den literarischen Nachruhm Goethes als rezeptiven Irrtum anzuprangern und, wenn möglich, zu zerstören. In der langen Geschichte der Goethe-Kritiker nehmen diese polemischen Angriffe allerdings eher eine Außenseiterposition ein. Anders als Goethes deutsche Konkurrenten und Widersacher, vom vorklassischen Friedrich Schiller über Heinrich Heine, Christian Dietrich Grabbe und Wilhelm Raabe bis hin zu Arno Schmidt, Rolf Dieter Brinkmann und Thomas Bernhard, die sich an Goethes literarischem Übervaterhabitus abgearbeitet haben, attackiert Barbey sein Opfer ohne das geringste Gespür für Goethes weithin unbestrittene literarische Leistungen. Sein Angriff erfolgt aus der Distanz - und ist deshalb von fundamentaler, wenngleich auch oberflächlicherer Natur.

Mit zwei Zentralbegriffen glaubt Barbey Goethes verzweigte literarische Produktion in den Griff zu bekommen: "Umarbeitung und Übersetzung" - Verfahrensweisen, die seiner eigenen, vom romantischen Originalgenie inspirierten, Literaturauffassung (die ohne den Stürmer und Dränger Goethe freilich undenkbar wäre) zuwider sind: "dieser große Goethe langweilte mich". Mit ikonoklastischem Furor macht er sich deshalb daran, den Dramatiker, Lyriker und Romanautor, aber auch den Reiseschriftsteller und Wissenschaftler Goethe vom Thron der öffentlichen Anerkennung zu stürzen. Weil er - was eigentlich sympathisch ist - nicht den im 19. Jahrhundert verbreiteten biografistischen Ansatz verfolgt, sondern sich auf eine Auseinandersetzung mit den Texten selbst einlässt, kann das nicht lange gut gehen. Der Goethe-Leser hat jederzeit die Möglichkeit, die Haltlosigkeit von Barbeys Invektiven anhand eigener Lektüreerfahrungen zu überprüfen.

Exemplarisch sei hier Barbeys Schmähung des "Faust" vorgestellt, eines Stücks, das ihm schon deshalb minderwertig vorkommt, weil es "nicht Goethes Kopf entsprungen, sondern über andere, erfinderischere Köpfe in den seinen hineingelangt ist". Die dramatische Ausgestaltung der übernommenen Vorlage stellt sich dem selbstbewussten Kritiker als ein "unzusammenhängender Wust ohne jede Art von Komposition" dar. Da die Titelfigur als adaptierte keine eigene Problematik zu begründen vermag und Mephisto lediglich wie ein "Kammerdiener aus einer Schmierenkomödie" wirkt, erscheint allein Gretchen als genuin Goethe'sche Figur. Jedoch: "Sie ist das primitive junge Mädchen, flüchtig erspäht an der Oberfläche der menschlichen Natur, das elementare Wesen, aus dem die Frauen aller Gesellschaften und Zivilisationen gemacht und geformt sind." Mit dieser Feststellung im Rücken glaubt Barbey auch einen Blick über den "Faust" hinaus tun zu können: "In Goethes Werken ist immer nur dieser eine Typ Frau lebendig und wahr. Alle seine Mädchengestalten sind Gretchens."

Barbeys Methode der Trivialisierung und Verunglimpfung des Olympiers mag auf den ersten Blick amüsant erscheinen; der Überraschungseffekt geht jedoch schnell verloren - zumal wenn man bemerkt, aus welchen trüben Quellen die Ressentiments des selbsternannten Denkmalstürmers stammen. Bereits der erste Satz verweist auf die Stellvertreterfunktion der Kämpfe, die Barbey auf dem literarischen Feld auszufechten gedachte. "Während die Preußen Paris bombardierten, las ich Goethe." Der mit der folgenreichen Instinktlosigkeit einer deutschen Kaiserkrönung in Versailles beendete deutsch-französische Krieg von 1870/71 bildete also den zeitlichen Hintergrund für die Attacken, die als Revanche für jene militärische Niederlage konzipiert waren, die dem französischen Nationalgefühl von Preußen-Deutschland bei Sedan zugefügt wurde. In seiner Germanophobie war Barbey allerdings entgangen, dass er sich mit Goethe, dem "deutschen Plumpsack" einen denkbar schlechten Anwalt des Preußentums als Zielscheibe erkoren hat. Aber der Abscheu gegen alles Deutsche ebnet solche Marginalien ein. Und so wird "Faust", jene vieldeutige Chiffre für das Drama menschlicher Existenz zur "literarischen Krupp-Kanone seiner Erscheinungszeit".

Es lohnt die Mühe nicht, allen Ungereimtheiten und Fehlern nachzugehen, die das zweifelhafte Vergnügen von Barbeys Klassikerbeschimpfung von Anfang an trüben. Die französische wie deutsche Goethe-Rezeption ist über die Anwürfe des orthodoxen Exzentrikers mit Schweigen hinweggegangen. Barbey, der vergeblich versuchte, mit Formulierungen wie dieser die literarischen Leistungen Goethes zu diffamieren, hatte selbst "nur eben Quak! gemacht".

Wieso bringt man diese Aufsätze eines chauvinistischen Goetheverächters nach über 130 Jahren neu heraus? Auf diese Frage hätte der zunächst amüsierte, dann aber immer ratlosere Leser gern eine Antwort gehabt. Der Herausgeber hält sich bedeckt und verweist am Ende seines Nachworts auf den stilistisch-ästhetischen Unterhaltungswert von Barbeys Impertinenzen: "Man amüsiert sich über seine Respektlosigkeit, seine Frechheit, seine Keulenschläge. Auch wenn seine Bemühungen letzten Endes ihr Ziel verfehlen, ist es ergötzlich zu sehen, daß der Angreifer ein Meisterschütze ist." Allen, die sich einem solchen Ergötzen anzuschließen vermögen, sei dieses Buch ans Herz gelegt.


Titelbild

Jules Barbey d´Aurevilly: Gegen Goethe.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2006.
137 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 388221869X

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