Metaphorik der Jahreszeiten

Lou Andreas-Salomé erzählt eine Spätherbstgeschichte

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während der aktivsten Zeiten der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gründeten feministische Aktivistinnen einige kleinere Frauenverlage, die bald so manch großen Verkaufserfolg zu verbuchen hatten. Man denke nur an Verena Stefans "Häutungen", Anja Meulenbelts "Die Scham ist vorbei" oder Svende Merians "Tod eines Märchenprinzen", der sein Leben seinerzeit allerdings nicht in einem feministischen, sondern kommunistischen Verlag aushauchte.

Es dauerte nicht lange, da sprangen die etablierten Großverlage des Landes auf den wie geschmiert laufenden Verkaufszug auf und schufen jeder für sich eine besondere 'Frauen-Reihe'. Ullstein etwa setzte die Reihe "Die Frau in der Literatur" in die Welt, in der auch der eine oder andere vor einem dreiviertel Jahrhundert erstmals erschienene Roman Lou Andreas-Salomés neu aufgelegt wurde. Einige der feministischen Verlage existieren nach wie vor, allen voran der allerdings etwas später gegründete Ulrike Helmer-Verlag. Die großen Publikumsverlage haben ihre 'Frauen-Reihen' hingegen längst eingestellt und die darin erschienenen 'Frauen-Romane' sind ebenso lange vergriffen. Auch die Salomés.

Der Deutsche Taschenbuchverlag hat nun aber nicht nur unlängst eine Ausgabe von Andreas-Salomés Briefwechsel mit Anna Freud herausgegeben, sondern im Laufe Jahres auch zwei ihrer literarischen Werke. Zunächst "Im Kampf um Gott" und nun "Aus fremder Seele", eine Novelle, die auf dem Titelblatt als "Spätherbstgeschichte" ausgewiesen wird.

In ihrem Zentrum stehen "Lügengeschichten". Nicht nur thematisch, sondern wortwörtlich. Denn nicht zufällig fällt der Begriff exakt in der Mitte des Romans. Erzählt werden diese Lügengeschichten - letztlich eine einzige große Lebenslügengeschichte - von einem Angehörigen einer Berufsgruppe, die von der Mehrheit der Deutschen merkwürdigerweise auch heute noch als besonders glaubwürdig geschätzt wird: einem als "Himmelspastor" verehrten Dorfpfarrer, der seinen Gemeindemitgliedern christlichen Trost spendet, obwohl er selbst von Glaubenszweifeln geplagt, ja ungläubig zu nennen ist. Gerade sein mangelnder Glaube ist es, der ihn - wie er den Kirchgängern schlussendlich eröffnet - befähigt, in "eurer Bibel" nur nach "dem Trostvollsten, dem Mildesten, dem Beglückendsten" zu suchen, "um es euch zu geben". Die Gemeinde reagiert mit entsetztem Schrecken auf das Eingeständnis seines Unglaubens. Einer der Protagonisten stirbt sogar am "Himmelspastor". Eine junge Frau allerdings fühlt sich durch die für sie frohe Botschaft, dass selbst der Pfarrer nicht an Gott glaubt, endlich befreit: "Und von dem hab ich mich fangen lassen!" denkt sie erleichtert. "Und habe nicht gewagt zu leben. Alt hätt ich darüber werden können".

Zu den interessantesten der Figuren des weiteren Personals zählt Justus Steiner, ehedem ein "flotte[r] Lebemann und Weltmann", den das Alter zu einem aufgeklärten Zyniker heranreifen ließ, zu dessen Erkenntnissen und Weisheiten es zählt, dass einem die "angenehmsten Ansichten und Aussichten [...] von dem Verstand verleidet" werden und das "Allerabscheulichste am Leben" nicht seine "Wertlosigkeit" ist, sondern dass die "Lebensgewohnheit" zunimmt, bis man schließlich im "Todesgrauen" die "letzte Menschenwürde" verliert: "Das Innerste in uns versteckt sich in Furcht und Feigheit, und so, in den hintersten Winkel gedrückt, werden wir meuchlings ermordet."

Eingekleidet ist die sich über einige Wochen, vielleicht Monate hinstreckende Handlung in eine stets präsente Jahreszeitenmetaphorik, die sich der Handlung unaufdringlich anpasst. Sie beginnt in der ruhigen Atmosphäre eines rotgoldenen Herbstes, in dem bereits die ersten Blätter fallen. Doch die Stimmung wandelt sich. Gemächlich, aber unaufhaltsam, so wie sich der Herbst in den Winter verwandelt. Und schon bald ist von dem einst "bunte Schmuck" der Bäume, der sich "vergebens vor der Vernichtung bergen zu wollen schien", ein bloß noch zerzaustes "ratloses Häufchen" auf feuchter Erde übrig. "Was vor ein paar Tagen noch goldgelb und rot und braun vor dem Winde herflatterte, das klebt schon in schmutzigen Farben am Boden". Es wird "winterkalt" und während die "dunkle Herbstnacht" voller böser Geiser scheint, deren "Gespensterfingern" als Regen an die Fenster klopfen, bleibt es im Haus "totenstill". Zuletzt aber stimmt eine "späte Lerche" ihr Lied an. Eine, "die ihren Sommer nicht vergessen konnte. Oder ihren Lenz heranjubelte."

Hans-Rüdiger Schwab, unter dessen Ägide bereits der "Kampf um Gott" erschien, hat auch dieses Buch herausgegeben und mit einem hellsichtigen Nachwort versehen. Bleibt zu hoffen, dass der Verlag weitere - vielleicht auch einige der essayistischen und psychoanalytischen - Werke von Andreas-Salomé folgen lässt. Am besten wieder unter Federführung Schwabs.


Titelbild

Lou Andreas-Salomé: Aus fremder Seele.
dtv Verlag, München 2007.
160 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-13: 9783423135962

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