Ökonomische Beschreibung eines verschwenderischen Lebens

Johannes Willms präsentiert Honoré de Balzacs Vita als Roman, verrät aber nur wenig über seine Romane

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sprechen wir vom Kapital, vom Geld! Materialisieren, beziffern wir also das Denken in einem Jahrhundert, das sich rühmt, das Jahrhundert des Positivismus zu sein! Ohne ungeheure Studien, die ein Kapital aus Zeit und Geld darstellen, kommt der Autor zu nichts. [...] Sein Wissen ist folglich eine Sache, bevor sie ein Rezept wird, sein Drama ist eine kostspielige Erfahrung, bevor es öffentliche Ergriffenheit auslöst. Seine Schöpfungen sind ein Schatz, der größte von allen." Diesen Hinweis auf die Entstehungskosten dichterischer Werke (im heutigen Steuerrecht würde man wohl von Werbekosten zur Arbeitsausübung sprechen) formulierte Honoré de Balzac 1834 in seinem "Brief an die französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts". Ganz so bahnbrechend neu, wie Johannes Willms dieses nüchtern ökonomische Autorverständnis Balzacs erachtet, ist dessen Reflexion auf den Marktcharakter von Literatur vielleicht nicht. Schon der alte Goethe bilanzierte im Gespräch mit Eckermann 1829 die Kosten seiner Lebensweisheit recht ähnlich: "Eine halbe Millionen meines Vermögens ist durch meine Hände gegangen, um das zu lernen, was ich jetzt weiß, nicht allein das ganze Vermögen meines Vaters, sondern auch mein Gehalt und mein bedeutendes literarisches Einkommen seit mehr als 50 Jahren... Jedes Bonmot, das ich sage, kostet mir eine Börse Gold."

Balzac ist freilich ein Autor, der nicht nur wie Goethe die üblichen Raubdrucke hasste, für angemessene Urheberrechte stritt und mit seinen Verlegern eifrig feilschte. Balzac stellt nicht nur das Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts in höchst anschaulicher Weise dar, wie Kritiker seit Marx über André Wurmsers große Studie "La Comédie inhumaine" bis zu Lukács und Adorno unisono lobten. Balzacs Leben selbst ist (und dies nun im Gegensatz zum gut versorgten und seine Haushaltbücher penibel überwachenden Goethe) ein tragikomischer Roman wirtschaftlichen Strampelns und Scheiterns. Eine Achterbahnfahrt von Projekten, Pleiten, Schulden, Verschwendungen auf Kredit, Arbeitsexzessen, üppigen Einnahmen und noch üppigeren Ausgaben für exquisite Luxusbedürfnisse. Diese durchaus abenteuerliche ökonomische Seite von Balzacs Leben (deren Fakten aus den Studien von Bouvier und Maynal seit den 1930er-Jahren bekannt sind), versteht Willms' Biografie in pointierter Form zu erzählen. Der prägnant schreibende Verfasser war einst Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, für die er immer noch aus Frankreich berichtet; seine Napoleon-Biografie war ein Erfolg bei der Kritik und auf dem Buchmarkt.

Balzac litt in einer unglücklichen Kindheit an einer herzlos kalten Mutter, die ihn abschiebt zu Ammen und in Internate, nicht zuletzt um Bewegungsspielräume für ihre Liebhaber zu sichern. Er rächte sich freilich dafür, indem er die alte Mutter später recht erbarmungslos herumkommandierte und zudem ihre Übernahme seiner Schulden in seiner Korrespondenz verdrehte zu ihrer Schuld an seinen Schulden. Und doch war es diese Mutter, die dem erschöpften 51jährigen die Sterbewache hielt und dem Toten schließlich die Augen schloss. Nachdem er, als napoleonischer Aufrührer verdächtigt, mit 16 halbwegs ehrenhaft aus der Schule befördert wurde, schickten ihn seine Eltern für knapp drei Jahre zur juristischen Ausbildung in Anwaltskanzleien und Notariate. Durch die Anschauung dieser rechtlichen Streitsachen lernte der junge Mann so einiges über Niedertracht, Egoismus und Doppelmoral, die unter den gutbürgerlichen Oberflächen gärten.

In einer hässlichen und kalten Pariser Mansarde versucht er sich dann als Schriftsteller. Innerhalb von fünf Jahren entstehen neun Romane, teilweise im Teamwork mit dem umtriebigen Vielschreiber Auguste Lepoitevin. Auf Drängen seiner Familie werden diese erfolglosen Geschichten unter Pseudonym publiziert. Balzac bezeichnete diese Frühwerke später als 'literarische Schweinereien'. Der so ambitionierte wie physisch wenig attraktive junge Mann wirbt als 23jähriger stürmisch und erfolgreich um die 22 Jahre ältere Adelige Madame de Berny, die ihn als eine Art Mutterersatz und Dauergeliebte Zeit ihres Lebens unterstützen wird.

Als 30jähriger gelingt ihm mit "Le Physiologie du Mariage" der literarische Durchbruch. Es folgen Meisterwerke wie "Le Peau de chagrin" und die "Scènes de la vie privée". Gleichwohl schrieb dieser herausragende Romancier des 19. Jahrhunderts kaum aus künstlerischer Leidenschaft oder gemäß der Kunstreligion des l'art pour l'art. Das Schreiben war ihm, trotz oder womöglich gerade wegen aller handwerklichen Perfektion, die sich in vielfachen, hektischen Überarbeitungen manifestierte, ein anstrengender Brotberuf. Gerne wollte er die Schreiberei, die er von Mitternacht bis in die Morgenstunden, gehüllt in eine Mönchskutte und aufgeputscht durch hochdosierten Kaffee geradezu rauschhaft betrieb, an den Nagel hängen - wenn doch endlich die Schulden bezahlt wären oder eine sehr reiche Frau als Gattin gefunden.

Auch die geniale Idee, die aus seinem analytischen Scharfblick für psychologische und gesellschaftliche Realitäten und seiner unerschöpflichen Phantasie gespeisten zahllosen Novellen und Romane zu einem fiktiven Romankosmos mit immer wiederkehrenden Protagonisten zusammenzufügen, entsprang wohl vor allem Balzacs Kalkül der Vermarktung. Durch den neuen Werktitel "Comédie humaine" konnte er alte Bücher gebündelt an neue Verleger verkaufen. Und durch die eingearbeitete Figurenwiederkehr sollten Leser als Käufer an sein Werk gebunden werden.

Seine ersten großen Verluste macht Balzac schon früh mit seinem Projekt, Werkausgaben von Lafontaine und Molière zu vermarkten. Der phantasievolle Autor wird freilich aus keinem unternehmerischen Debakel klug werden - obwohl seine Darstellungen finanzieller Projekte im Romanwerk von gründlicher Kenntnis ökonomischer Zusammenhänge zeugen, nutzt ihm dies bei seinen halsbrecherischen Unternehmungen nichts. 1826 kauft er eine Druckerei mit 36 Angestellten. Die erheblichen Verluste von etwa 100.000 Franc, die aus dem folgenden geschäftlichen Misserfolg resultieren, sind der Grundstock einer Verschuldung, die der mit seiner ergiebigen literarischen Produktion durchaus gut verdienende Balzac bis zum Tod nicht abtragen wird.

Auch seine Parlamentskandidaturen auf der monarchistischen Rechten, die den Ehrgeizigen gleich von einem Ministeramt träumen ließen, scheiterten 1831 und 1832 kläglich. 1835 kauft Balzac die Zeitschrift "Chronique" für 140 Francs; ein Jahr später hat dieser neuerliche unternehmerische Dilettantismus durch unüberschaubare Aufwendungen, luxuriöse Geschäftsführung und nur spärliche Einnahmen etwa 45.000 Francs neue Schulden produziert. Balzac veräußert daraufhin die Rechte an seinem Gesamtwerk inklusive 36 noch zu schreibender Bücher für das Linsengericht von 50.000 Franc an einige Verleger. Weitere geschäftliche Abenteuer führen den schon arrivierten Autor nach Sardinien, wo er den Abraum römischer Silberminen ausbeuten lassen will. Hier ist ihm ein anderer freilich zuvorgekommen, während er seine Schatzsuche in der Karibik (wohl zu seinem Glück) gar nicht erst beginnt.

1836 verbringt der immer wieder von Gläubigern gejagte und von Freunden mit Geld und Fluchträumen gerettete Schuldner eine Woche im Schuldgefängnis, wo er die Bekanntschaft mit Eugène Sue macht, dem er später freilich seine größeren Einnahmen als Erfolgsautor der Epoche neiden wird. Balzac, der laut Willms nicht nur in seinen Romanen seine überwältigende Phantasie auslebt, sondern auch als Privatmann seinen Wünschen und Hoffnungen und den imaginierten Plänen ihrer Befriedigung geradezu autosuggestiv auf den Leim geht, behauptet einmal, blaue Rosen züchten zu können, und so einen hoch dotierten in Belgien ausgelobten Preis einzuheimsen. Und er plant, die so tropische wie profitable Ananas in Gewächshäusern im Umland von Paris zu züchten.

Balzacs ökonomisches Martyrium war wohl nicht auf der Einnahmeseite verursacht: Er erzielte durchaus beachtliche Honorare für journalistische wie erzählerische Arbeiten, die er in großer Schnelligkeit schrieb. Doch sein Bedürfnis nach Luxus in Kleidung, Wohnungseinrichtung und Fuhrpark überstieg regelmäßig sein verfügbares Einkommen. Dieser Aufsteiger-Ehrgeiz nach einer adeligen Lebensführung manifestierte sich auch in der Wahl seiner Freundinnen und Geliebten, die ihn möglichst gesellschaftlich voran bringen sollten. Willms zeichnet hier ein recht schonungsloses Bild des Autors als Parvenu, der Liebe, Geld und Luxus gleichermaßen leidenschaftlich und oft uno actu begehrt. Gerade weil Balzac in seinen Werken und Briefen sich als ein äußerst einfühlsamer Frauenversteher profilierte, flogen ihm die Briefe und Herzen von Verehrerinnen zu. Sie wurden von ihm, wenn der adelige Rang zu passen schien, umgehend als finanzielle Retterinnen auserkoren.

Die große Liebesphantasie - nebst der großen Hoffnung auf finanzielle Erlösung -, die Balzac in den letzen 16 Lebensjahren an die polnische Gräfin Eveline Hanska band, wird eindringlich geschildert als eine weitgehend fiktionsbasierte, gelegentlich komödienhafte Affaire zweier allzu gegensätzlich Interessierter. Diese Distanz-Beziehung, die nur bei gelegentlichen Treffen und gemeinsamen Reisen nach dem Tod des Gatten der Hanska zu realer Zweisamkeit gelangte, diese in eine Ehe kurz vor Balzacs Tod mündende Affaire, in der Balzac wie so oft Schein und Sein virtuos vermengte, analysiert Willms mit kühlem Blick mittels einer souveränen Auswahl aus der umfangreichen Korrespondenz, von der leider (fast) nur Balzacs Briefe erhalten sind.

Der Biograf gibt in seinem Vorwort einen knappen Überblick zu den verwendeten Materialien, vornehmlich der Korrespondenz des Romanciers, und nennt einige wichtige Titel der Balzac-Philologie. Bedauerlicherweise vergisst er dabei einen Hinweis auf die beiden neueren, umfangreichen und gelehrten französischen Balzac-Biografien der ausgewiesenen Spezialisten Roger Pierrot (1995) und Nadine Satiat (1999). Hat der deutsche Biograf diesen aktuellen Stand der Balzac-Biografik aus Angst vor Beeinflussung lieber nicht zur Kenntnis genommen - oder verdankt er diesen Standardwerken so viel, dass er sie als Hauptquellen ungenannt verschwinden lässt?

Diese neue, geradlinig erzählte Lebensbeschreibung ersetzt die ebenfalls bei Diogenes verlegte deutsche Ausgabe der doppelt so umfangreichen Biografie von André Maurois aus den 1960er-Jahren. Willms hat den deutlichen Vorzug, die abenteuerlichen Begebenheiten dieser leidenschaftlichen und exzessiven Schriftstellervita schnörkellos und pointiert zu erzählen. Besonders der oft umständlichen und manierierten Übersetzung von Maurois' Biografie muss man nicht nachtrauern. Als wunderbare Materialsammlung und Hinführung zu Balzacs schriftstellerischem Werk unersetzlich bleibt freilich das von Claudia Schmölders edierte Bändchen "Balzac Leben und Werk", das eine klug komponierte Auswahl von Lebens- und Lese-Zeugnissen zu Balzac aus der Feder bedeutender Autoren (von Adorno über Baudelaire bis zu Simenon und Stefan Zweig) versammelt. Und Ernst Robert Curtius' meisterliche Balzac-Monografie hat auch nach über 80 Jahren als deutsches Standardwerk zu Balzac nur wenig (lebensphilosophische und mystisch raunende) Patina angesetzt.

Willms' neue Biografie ist wohl auch als Begleitbuch zu einer achtbändigen Balzac-Werkauswahl gedacht, die der schon lange um eine deutsche Balzac-Präsenz bemühte Diogenes Verlag in diesem Herbst neu auflegt. Die gesamte nahezu hundertbändige "Menschliche Komödie" des Autors ist in Deutschland wohl nur schwer zu vermitteln. Doch beginnen kann man mit den acht ausgewählten Werken allemal. Einmal süchtig geworden, lassen sich dann weitere Romane dieses als literarische Sozio-Zoologie intendierten Panoramas der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Antiquariaten besorgen. Der Goldmann Verlag hatte vor einigen Jahren verdienstvollerweise eine große Kassette mit dem gesamten Zyklus aufgelegt, die leider vergriffen ist.

Es war dieses Jahr der Herbst der Schriftsteller-Biografien Neben Stefan George und Ernst Jünger sind gleich drei neue Lebensdarstellungen zu Kleist erschienen. Auch Hermann Melville und Joseph Conrad werden mit neuen Lebensschilderungen bedacht. Von der unseligen Vita Hindenburgs ganz zu schweigen. Balzcas amouröses, gesellschaftliches und (un-)ökonomisches Leben kann es dabei an fesselnder Abenteuerlichkeit ohne Zweifel aufnehmen mit den Kriegern Kleist und Jünger und dem Seemann und Afrikafahrer Conrad.

Man könnte mit Leo Löwenthals klassischer kritischer Studie über 'Die biographische Mode' (aus den 1940er-Jahren) nach den heutigen ideologischen Bausteinen, der Machart und dem Publikumsbedürfnis der offenbar sehr marktgängigen Biografik fragen. Man darf freilich auch das Interesse am Künstler-Individuum, seinen Lebensumständen und Arbeitsweisen als eine legitime Leserlust verteidigen. Das gilt um so mehr, wenn die Biografik eine kritische ist, die weniger Führer- und Geniekult betreibt als vielmehr kreative Individuen in ihren historischen, ökonomischen, moralischen und psychologischen Verstrickungen und Widersprüchen zu erhellen sucht.

Ein solch nüchtern analytischer Zugriff auf Balzacs passioniertes Leben, ohne forcierte Schlüssellochperspektive oder Denunziation ist Johannes Willms in seiner kompakten Biografie bestens gelungen. Zu loben ist auch das Werk- und Personenregister am Ende der Lebensschilderung. Zwar erfahren wir bei Willms nur wenig über den Romankosmos dieses wohl erfindungsreichsten Autors des 19. Jahrhunderts. Doch diese Vita ist in sich mitreißend genug, um Appetit auf das wahrhaft große Vermächtnis Balzacs zu machen: seine Romane.


Titelbild

Johannes Willms: Balzac. Eine Biographie.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
400 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066241

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