Vom Ausweg aus der Not

Kim Jooyoungs Roman über Beengung und Befreiung

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kind zu sein ist eine Not. Da sind die Großen, die alles zu wissen scheinen, die zuweilen tuscheln, zuweilen auch ganz offen sprechen über Dinge, die man nicht versteht und von denen man doch ahnt, dass sie das eigene Leben verändern werden.

Erwachsen werden ist eine Not, denn plötzlich gilt man als jemand, der schon verstehen könnte, es wird nicht einmal mehr getuschelt, und doch weiß man, dass die Großen schon ihre Entscheidungen planen.

Wie Jugendliche in solcher Lage ihre Persönlichkeit dennoch zu entfalten versuchen, ist ein häufiges Thema von Literatur. Kim Jooyoung hat es in den Mittelpunkt der beiden Romane gestellt, die bislang von ihm auf Deutsch vorlagen. In "Der Stachelrochen" und "Ein Fischer bricht das Schilfrohr nicht" ging es um unvollständige Familien, um die Auseinandersetzung eines kindlichen oder jugendlichen Ich-Erzählers mit seiner Mutter und mit deren Geheimnissen. Es handelte sich um Bücher der Reifung und der Entdramatisierung: Der Held durchschaute irgendwann das Tun der Erwachsenen, das dadurch Normalität gewann. Indem er mit den unter den Großen üblichen Täuschungen umzugehen lernte, wurde er zugleich in die Gesellschaft integriert.

In "Sardellen", dem nunmehr dritten Roman Kims, der ins Deutsche übersetzt wurde, ist die Ausgangslage ähnlich, doch das Ergebnis ganz anders. Der vierzehnjährige Daesop lebt im Hause seines Vaters, eines erfolglosen Jägers, seine Mutter hat die beiden verlassen. Zuweilen verbringt Daesop seine Zeit auch bei seinem Onkel, der mit dem Vater verfeindet ist und in einem kleinen Unterstand im Gebirge haust. Kim schildert diesmal eine Männerwelt - eine Geliebte des Vaters taucht nur episodisch auf, um dann scheinbar bald wieder zu verschwinden. In dieser Männerwelt wird ebenso wenig geredet wie in den früheren Büchern zwischen Sohn und Mutter. Sogar wenn die Erwachsenen Daesop etwas erzählen, ist es doch in den entscheidenden Punkten lückenhaft. Daesop seinerseits lügt, unbedacht, um ein Vergehen zu tarnen, oder weil er das Beste will. Meist lügt er ungeschickt.

So belauert man sich gegenseitig. Nicht zufällig beginnt das Buch mit einer Episode, in der der Onkel Daesop das bewegungslose Warten beizubringen versucht. In der ersten Hälfte des Romans geschieht sehr wenig. Atmosphärisch dichte Naturschilderungen prägen das Buch; als Anlass für geduldiges Ausharren ist die Natur - hier wie überall sonst im Roman stets auf die Menschen bezogen. Mehrfach gehen die realistischen Schilderungen in Traumsequenzen über: für Daesop ist auch die Geisterwelt real.

Kim nimmt sich Zeit, die Motive vorzubereiten, die er für den letzten Abschnitt seines Buches braucht: für die Schilderung der Jagd, durch die der Vater seinen Ruf wieder herstellen will. Die fast mythischen Attribute der Männer - das Gewehr des Vaters, der Wurfspeer des Onkels - werden nun zu den wichtigsten Instrumenten. Die beiden Männer, die sich so fremd schienen, verstehen sich nun fast wortlos. Doch wird nie ganz gewiss, was in diesem neuen Verhältnis Kooperation, was Konkurrenz ist.

Kims Romane sind stets wohlkalkuliert. "Der Stachelrochen" und "Ein Fischer bricht das Schilfrohr nicht" beginnen mit einer Enge, aus der dann eine Befreiung gelingt. Im neuen Buch findet sich nichts dergleichen. Nur zwei Busfahrten in die Kreisstadt zeigen, dass der Roman in der Moderne spielt. Diese einzigen Ausbrüche aus der Geschlossenheit von Tal und Dorf geschahen zudem in einer Vergangenheit vor Beginn der eigentlichen Handlung und sind nur in der Erinnerung Daesops aufbewahrt. Die Jagd, die zunächst ein Aufbruch ins Freie scheint, entpuppt sich als Gegenteil, als Schrumpfen des Raums: Treiber kreisen geduldig die Beute ein und lassen als einzigen Ausweg eine Enge, die zum Platz der Entscheidung wird.

Die Übersetzer Stefan Straub und Jeung Minki haben zwei Sprachebenen deutlich kontrastiert: die ruhigen, sensiblen Landschaftsbeschreibungen einerseits, andererseits eine grobe, oft derbe Männersprache für einen großen Teil der wörtlichen Rede. Das überzeugt zumeist, zumal ungewöhnliche Metaphern nicht zugunsten einer leichten Konsumierbarkeit eingeebnet wurden und so mehr als eine Ahnung von der Sprachmacht, die das Original haben dürfte, vermitteln. Ob nicht besser für wörtlich übersetzte koreanische Redewendungen, die mittels Fußnoten erklärt werden, entsprechende deutsche Redewendungen gefunden worden wären, darüber kann man streiten. Straub und Jeung zeigen die Plastizität der koreanischen Umgangssprache, doch dies um den Preis eines Illusionsbruchs, der sich an diesen Stellen bei Kim nicht findet. Auch stören ein paar ungeschickte Wendungen, etwa wenn sich der Vater gegenüber dem Onkel "zunehmend ablehnender" verhält. Doch sind meist die Formulierungen klar und zuweilen auch gekonnt zugespitzt: "Sie warf mich und Onkel in einen Topf und würzte uns kräftig mit ihrem Zynismus."

So bereichert das Buch jene kleine Gruppe von Texten Kim Jooyoungs, die deutschen Lesern zugänglich sind. Man fragt sich allerdings, ob die verblüffende Schlusswendung überzeugt. Im allerletzten Absatz wird Daesop, der mittlerweile die Stellung seines Onkels eingenommen hat, doch noch ein Befreiungserlebnis zuteil. Wie leider so häufig in der Dichtung muss, wo die Menschenwelt hoffnungslos verbarrikadiert ist, Natur als Ausweg dienen. Das ist hier mit all der formalen Eleganz gezeichnet, die Kim, als dem sorgsamen Architekten unter den koreanischen Romanautoren, zu Gebote steht - doch ist es eben, wenn auch im doppelten Sinne, eine Notlösung.


Titelbild

Kim Jooyoung: Sardellen. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Stefan Straub und Jeung Minki.
Edition Peperkorn, Thunum 2007.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783929181746

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