Schönheit der Schwermut

Joseph von Eichendorff zum 150. Todestag

Von Norbert HummeltRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Hummelt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass schon mein Großvater Gedichte und Erzählungen von Eichendorff las. Nicht, dass wir Gelegenheit gehabt hätten, darüber zu sprechen, denn er starb wenige Wochen nach meiner Geburt. Erst 25 Jahre später, nachdem auch meine Großmutter gestorben war, kamen diese Bücher in meinen Besitz. Sie waren schon längst aus dem Leim gegangen: Ein Band mit den drei Novellen "Die Glücksritter", "Das Schloss Dürande" und "Das Marmorbild", 1947 erschienen, genehmigt von der britischen Militärregierung. Und die Gedichtsammlung, "O Täler weit, o Höhen!", eine Ausgabe von 1922, auf deren verblasstem grünen Einband ein Posthorn prangt. Darin fand ich eine Glückwunschkarte zum Namenstag, die meine Großmutter im November 1927 für ihren Mann beschriftet hat, im Namen meiner Mutter, die damals gerade ein Jahr alt war: "Dem lieben Vater! Viel Glück + Segen von seiner kleinen Maria-Katharina."

Ich wüsste gern, wie diese Gedichte auf meinen Großvater gewirkt haben, ob es ihm ähnlich ging wie seinem Enkel, dem einzelne Strophen wie Mantren nachgehen: "In einem kühlen Grunde / Da geht ein Mühlenrad, / Mein' Liebste ist verschwunden, / Die dort gewohnet hat." Oder diese: "Ich hör' die Bächlein rauschen / Im Walde her und hin, / Im Walde in dem Rauschen / Ich weiß nicht, wo ich bin." Oder diese: "Aus der Heimat hinter den Blitzen rot / Da kommen die Wolken her, / Aber Vater und Mutter sind lange tot, / Es kennt mich dort keiner mehr."

Inzwischen sind auch meine Eltern gestorben, doch der Wirkung der Gedichte scheint die Zeit nichts anhaben zu können. Worin liegt diese Faszination begründet? Eichendorffs Dichtung, so schrieb Theodor W. Adorno in einer großen Würdigung zum 100. Todestag des Dichters 1957, lasse sich vertrauend treiben vom Strom der Sprache und ohne Angst, in ihm zu versinken. Hartwig Schultz, Autor einer neu bei Insel erschienen Eichendorff-Biografie, versucht das Geheimnis so zu fassen: "Der Leser füllt die Formeln und Bilder mit eigenen Projektionen. Er nimmt die Gestalten und Bilder als Abbilder seiner Wunsch- und Traumbilder auf, weil sie so allgemein, so wenig differenziert geboten werden."

Das kann ich aus der eigenen Lektüre nur bestätigen. Meine ganz persönliche Eichendorff-Landschaft ist der Hunsrück, zwischen Rhein und Mosel, wo Edgar Reitz "Heimat" drehte, wo aber Eichendorff nie gewesen ist. Wir machten dort Urlaub zu einer Zeit, als andere schon nach Mallorca fuhren. Zogen vom Dorf aus an den Streuobstwiesen entlang, durch die Felder und den Wald hinunter in die Klamm. Auch dort standen Burgen, besonders hatte es mir die Ruine Rauschenburg angetan, weil wir sie nie gefunden haben. Erst Jahre später gelangte ich an die versteckte Stelle, bei einer völlig verregneten Wanderung. Ein Bergsporn, auf den nur ein schmaler Pfad hinaufführte; alte Steine unter Gestrüpp; wir ruhten uns aus, bevor wir weiterwanderten, und ich fühlte mich wie der von aller Welt vergessene Eremit in Eichendorffs "Auf einer Burg": "Eingeschlafen auf der Lauer / Oben ist der alte Ritter; / Drüber gehen Regenschauer, / Und der Wald rauscht durch das Gitter."

Ich kannte als Kind diese Gedichte noch nicht, aber als ich sie kennenlernte, wurden sie mir zu Chiffren meiner Erinnerung, und wenn ich heute in diese Gegend zurückkehre, kann ich sie kaum anders als durch die Folie der Gedichte sehen, die in mich eingegangen sind wie Archetypen. Und wenn Gedichte diese Wirkung auch nach knapp zwei Jahrhunderten noch entfalten können, dann muss es sich um außergewöhnliche Kunst handeln.

Darüber erfährt man aus Schultz' Biografie leider wenig. Allzu ausführlich zitiert er aus den Tagebüchern, die Eichendorff als Jugendlicher und in seinen Studienjahren in Halle, Heidelberg und Wien verfasste; später versiegt diese Quelle, weil sich der preußische Beamte mit persönlichen Bekundungen zurückhielt und alles seiner Dichtung anvertraute. Sie neu zu lesen hat Schultz nicht unternommen; das Feuer, das seine Brentano-Biografie "Schwarzer Schmetterling" weiterzureichen verstand, hat der Autor für sein Eichendorff-Buch nicht entfachen können. So wird sein gut geführter Beweis, dass Eichendorff und Brentano sich in Heidelberg gar nicht begegnet sind (womit er Eichendorff der Legendenbildung überführt), wohl das einzige sein, das ich mir aus diesem Buche merken werde, das neuere philologische Kleinfunde ausbreitet und die Person des Dichters darüber aus den Augen verliert.

Aber wen interessiert ernstlich zu erfahren, dass Eichendorff bei der Abfassung seiner "Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands" die protestantischen Literaturgeschichten von Gerwinus und Gelzer auf dem Tisch liegen hatte? Eichendorffs einseitig katholische Darstellung der romantischen Epoche wirklich zu lesen, habe ich bis heute nicht über mich gebracht. Dagegen werde ich alle paar Jahre "Dichter und ihre Gesellen" wieder lesen, den Roman von 1834. Denn trotz der wuchernden Manierismen in Eichendorffs Prosa, die nicht so klar und luzide ist wie seine Lyrik, ist dieser spätromantische Wurf bis heute ein Modell für das Scheitern und Gelingen künstlerischer Lebensentwürfe. Unter den Erzählungen ragen, neben dem anarchischen "Taugenichts", "Das Schloss Dürande" und "Die Entführung" heraus, weil sie die differenzierte Auseinandersetzung des schlesischen Landadligen mit der Revolution mit herzzerreißenden Liebesgeschichten in eins bringen.

Eigentlich ohne Unterbrechung aber benötige ich die Gedichte, die auch in den Erzählungen begegnen, als Steigerungen der Prosa sind sie den Figuren in den Mund gelegt. Sie enthüllen geheime Wünsche ihrer Träger, schlüsseln ein verdecktes Schicksal auf, weisen vor und zurück in der Welt des Erzählten, die wie ein barocker Irrgarten angelegt ist. "Konnt' mich auch sonst mit schwingen / Übers grüne Revier, / Hatt' ein Herze zum Singen / Und Flügel wie ihr", singt Leontine in der "Entführung", als der Graf sie sitzen gelassen hat. Ihr Lied "An die Waldvögel" aber wird, losgelöst aus der Erzählung, zum Ausdruck reiner Melancholie: "Und die Segel verzogen, / Und es dämmert' das Feld, / Und ich hab' mich verflogen / In der weiten, weiten Welt."

Es mag an dieser melancholischen Sicht des Lebens liegen, dass mich diese Texte nicht loslassen; daran, dass in ihnen so inständig vom Verlust die Rede ist. Der Tod der Eltern, der Tod der Liebsten, der Abschied von Freunden und der Verlust der Heimat sind ständig wiederkehrende Motive in den Erzählungen wie in den Gedichten. In ihnen ist eine Trauer gespeichert, die zu mir sprach, seit ich sie erstmals las; als ob ich selbst alle Verluste schon durchlitten hätte. Aber melancholisch sind auch andere Dichter, die mich weniger betreffen, und so bleibt man, wie stets, wenn es um Geheimnisse geht, auf Vermutungen angewiesen.

Wie kein anderer Dichter der Romantik hat Eichendorff aus der Volksliedstrophe, die er sich anhand der Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn" aneignete, ein lyrisches Grundmuster gewonnen, das in Verbindung mit einem überschaubaren Vorrat elementarer Bilder eine seelische Ursprache simuliert. Es sei, schrieb Adorno, "als würde Natur dem Schwermütigen zur bedeutenden Sprache [...] Sie ahmt Rauschen und einsame Natur nach. Damit drückt sie eine Entfremdung aus, die kein Gedanke, sondern nur noch der reine Laut überbrückt."

Die Wiederkehr der gleichen Laute hat etwas Manisches. Immer wieder reimt er Welt auf Feld, Sterne auf Ferne, Wipfel auf Gipfel, Nacht auf Pracht und Not auf Tod und Morgenrot, aber die Einförmigkeit verhindert geradezu, dass sich die Wirkung der Bilder und Töne abnutzt. Eichendorffs Verse wirken wie Naturgegebenheiten, ihr Rhythmus gleicht sich dem Puls des Lesers an, der ihn kaum empfindet und sich umso tiefer in die Bilder versenkt, die wie Szenen aus einem flüchtig durchblätterten Album, wie aus dem Schnellzug gesehene Landschaften an ihm vorbeiziehen, betörend und nicht anzuhalten: "Und ich mag mich nicht bewahren! / Weit von euch treibt mich der Wind, / Auf dem Strome will ich fahren, / Von dem Glanze selig blind!"

Das Ich dieser Gedichte ist unserer komplexen Welterfahrung gemäß, weil es stets aus einer Gefährdung heraus spricht und nie vorgibt, die Welt als Ganzes überschauen zu können. Es spricht nicht aus der Vogelperspektive, es blickt zu den Vögeln auf. Im Singen spricht es sich selber Mut zu. Das Gedicht wird so zum einzig treuen Begleiter in einer Welt, die erst als schön und verlockend, dann aber als heillos labyrinthisch erfahren wird. Dem entgegen steht bei Eichendorff der Glaube an eine ursprüngliche Ordnung der Schöpfung. Sprachvertrauen war ihm gleich Gottvertrauen. Er verstand die Natur als göttliche Hieroglyphenschrift, die nur der Dichter entziffern kann, während die Menschheit durch den Gang der Geschichte aus dem Gnadenstand der poetischen Einsicht in den Heilsplan Gottes herausgefallen ist. Nur im Lied scheint die verlorene Harmonie wieder auf. Verloren, so wenden wir ein, bleibt sie trotzdem. Wer darüber noch trauern kann, ist in den Werken Eichendorffs gut aufgehoben.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien bereits in der Frankfurter Rundschau vom 24.11.2007. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.


Titelbild

Hartwig Schultz: Joseph von Eichendorff. Biographie.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
368 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783458173625

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch