Motor der zweiten gesellschaftlichen Modernisierung?

Die Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung wird zum Handbuch

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit "'68" sind wir immer noch nicht zuende, es gibt immer noch etwas darüber zu sagen, und seine Bedeutung für die Geschichte der Bundesrepublik ist noch immer nicht vollends geklärt: Waren die unruhigen, vorlauten und aufsässigen Studenten von 1968 die Totengräber der formierten Gesellschaft oder der Motor der gesellschaftlichen Modernisierung? Mündet ihr Protest in den Terrorismus der RAF oder der Bewegung 2. Juni oder sind sie - gegen ihren erklärten politischen Willen - vor allem die Avantgardisten der offenen Gesellschaft? Sind die Medien- und Wohlstandsgesellschaft, die Beliebigkeit und Wählbarkeit von Bekenntnissen und Lebensstilen ihr Verdienst oder ihre Hauptschuld? Wer und was wäre die bundesdeutsche Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts ohne die Studentenbewegung?

Dass die Diskussionen um den Rang von '68 bei jedem ganzen oder halben Jubiläum wieder aufkochen, als wäre es das erste Mal, ist eigentlich erstaunlich. Immerhin ist das Ganze schon vierzig Jahre her, die Protagonisten von damals sind entweder im Greisenalter oder verstorben, soweit sie dem "Establishment" angehörten, oder streben, soweit sie selbst '68er waren, dem Ruhestand entgegen und den Problemen der Altersbeschäftigung. Das Thema müsste also eigentlich in die Jahre gekommen sein, aber so verhält es sich nicht.

Allerdings haben die nachrückenden Historiker, Medien- und Kulturwissenschaftler nach und nach den Protagonisten von damals das Thema aus der Hand genommen. Zwar häufen sich die Publikationen mit Erinnerungen, Korrekturen und Spätrechtfertigungen der Zeitgenossen, zugleich ist aber auch ein intensives Interesse der jüngeren Forschung unterschiedlicher Provenienz an dem Phänomen '68 erkennbar. Dabei lässt sich, wie auch in dem von Martin Klimke und Joachim Scharloth herausgegebenen "Handbuch 1968" deutlich wird, eine Verschiebung weg von der rein politischen Interpretation von 1968 hin zur Untersuchung von Protestpraktiken, Lebensstilen und Habitusveränderungen erkennen: "Die Achtundsechziger-Bewegung wird in ihrer allmählich einsetzenden wissenschaftlichen Historisierung zunehmend nicht mehr nur als eine auf politische und gesellschaftliche Veränderungen zielende Protestbewegung verstanden, sondern auch als ein Generator neuer Ausdrucksformen und alternativer Symbolsysteme mit langfristiger Breitenwirkung." Die Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften für performative Aspekte der Gesellschaftsgeschichte, für die Codes, die Symbolsysteme und für Einbettung der Studentenbewegung in umfassendere historische Entwicklungen haben, so die beiden Herausgeber, den Blick auf das Ereignis verändert. Die späten 1960er-Jahre geraten damit zu einer der drei Dynamisierungsphasen im 20. Jahrhundert, neben den Jahren 1900 bis 1930 und neben der Wende zum 21. Jahrhundert. Die 1960er-Jahre werden zum "Scharnierjahrzehnt" in der Entwicklung hin zur Massen-, Medien- und Konsumgesellschaft.

Das Augenmerk des Handbuchs liegt entsprechend nicht auf einer möglichst exakten historischen Beschreibung des Phänomens. Eine Skizze der Abfolge der Studentenrevolte findet sich denn auch nur in einem Beitrag zur Entwicklung der Berliner Subkultur um 1970 aus der Studentenbewegung von Wolfgang Kraushaar. Ansonsten konzentrieren sich die Autorinnen und Autoren auf die im weitesten Sinne mediale Repräsentation von 1968.

Der Band ist in fünf Abteilungen gegliedert: 1. Medien und Öffentlichkeit, 2. Performanz und Subversion, 3. Neue kulturelle Praktiken, 4. Gewaltdiskurse und 5. Rückblicke. Die Beiträge der ersten Abteilung verorten die '68er im Umfeld der Medien Ende der 1960er-Jahre, ihrer Veränderungen und neuer medialer Praktiken. Der Beitrag von Katrin Fahlenbrach konzentriert sich dabei insbesondere auf die Inszenierung des Protests und deren visuellen Konsequenzen. Daran schließt der Beitrag von Dorothee Liehr an. Die beiden Beiträge über den Graffiti-Aktionisten Peter Ernst Eiffe (Merif Puw Davies) und das "Kursbuch" (Henning Marmula) stellen zwei "Formate" der Studentenbewegung vor. Hier scheinen jedoch Beiträge zu anderen Formaten wie Flugblatt, Straßenmusik und Szenezeitung zu fehlen. Dieses Defizit wird zwar in den anderen Beiträgen beiläufig und wenigstens teilweise behoben. Zeitschriften wie "Agit 883", die Flugblätter der Kommune I oder die diversen Szene-Bestseller wie "Klau mich" tauchen beinahe zwangsläufig auf. Allerdings würde eine genaue Behandlung Fehlurteile gerade bei den Flugblättern vermeiden helfen. In den Beiträgen zur musikalischen Avantgarde oder zum Verhältnis der Protestkultur zur Rockmusik fehlt etwa eine Abhandlung zu den musikalischen Ausdrucksformen der Studentenbewegung oder in deren Nachfolge (etwa das Feld zwischen Ton Steine Scherben, Franz Josef Degenhardt, Wolfgang Neuss und Hannes Wader). Zwar gehört das alles eingestandenermaßen zu den im dritten Abschnitt behandelten künstlerischen Ausdrucksformen, aber die Einordnung des Eiffe-Artikels in den Medienabschnitt zeigt, wie schwierig eine scharfe Trennung zwischen politischen und künstlerischen Medien ist.

Im Abschnitt zu Performanz und Subversion kehrt dieses Problem wieder, wird das Straßentheater hier doch als künstlerische Protestform beschrieben (Dorothea Kraus). Die Fokussierung auf die performativen Aspekte der Studentenbewegung macht diese Zuordnung jedoch zweifelsohne möglich. Behandelt werden in den Beiträgen die Entdeckung des Performativen als politische Handlungs- und Ausdrucksform (grundsätzlich dazu Joachim Scharloth). Daneben werden die Traditionen der Studentenbewegung, insbesondere die der Subversiven Aktion (Alexander Holmig), die der Situationisten (Mia Lee) ebenso behandelt wie neuere Protestformen wie das Sit-in (Martin Klimke). Die Bedeutung der Performanz für die Studentenbewegung ist dabei kaum zu übersehen. Die breite Wirkung der Aktionen ist nicht zuletzt auch auf die Entwicklung performativer Kompetenzen zurückzuführen. In dem Moment, in dem die Aktivisten der Studentenbewegung entdeckten, wie stark die Vertreter von Gesellschaft, Politik, Kultur, Wissenschaft und Medien auf ihre Aktionen reagierten, bauten sie diesen Strang ihrer Aktionen weiter aus. Die Provokationskraft der Aktionen stieg nicht zuletzt auch deshalb, weil sie mit ihnen die gewohnten Handlungsroutinen der Repräsentanten der Gesellschaft unterlaufen konnten. Allerdings führt die kommunikationstheoretisch fundierte Analyse etwa der Prozesskommunikation als "Antiritualisierungsstrategie" (Scharloth) nicht weit genug. Im Versuch, die einzelnen Aktivitäten inhaltlich zu beschreiben, fixiert Scharloth sie zu stark. Die inhaltliche Offenheit der Aktionen, ihre Widersprüchlichkeit und Sinnlosigkeit ist ja gerade eines der wichtigsten Erbschaften, die die '68er von Dada übernahmen.

Der Abschnitt über die neuen kulturellen Praktiken behandelt Happening (Martin Papenbrock), Literatur (Roman Luckscheiter), Rockmusik und Popkultur (Lorenz Durrer), die Musikavantgarde Ende der 1960er-Jahre (Beate Kutschke) und die Entwicklung der Filmsprache (Thomas Christensen) respektive die Diskussionen an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (Volker Pantenburg). Dabei wird die Thematik "Postmoderne" im wesentlichen nur im literaturhistorischen Beitrag aufgenommen, der ansonsten im Grunde nur die Unfähigkeit der Literatur um 1968 attestiert, die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderungen aufzunehmen und zu verarbeiten.

Außer Rolf Dieter Brinkmann und Bernward Vesper war da nichts? Angesichts der zahlreichen auch literarisch aufschlussreichen Versuche in Richtung Politliteratur einerseits und neuem Subjektivismus andererseits wäre noch das eine oder andere zu berücksichtigen gewesen. Die Brücke von Brinkmann zu Erich Fried beispielsweise wäre allerdings schwierig zu schlagen gewesen. Die Beiträge plagen sich offensichtlich mit dem Problem herum, dass sie zwar allesamt unter dem Label Kultur rubriziert werden, ansonsten jedoch im Dreieck Neuformierung der bildenden Kunst, Populärkultur und Politkultur anzusiedeln sind und zum Teil nur wenig gemein haben.

Nur mit Mühe lassen sich die Beiträge des Abschnitts Alltagskulturelle Praktiken miteinander verbinden. Diskussion als zentrale interne Kommunikationsform der '68er (Nina Verheyen), ihre Begrifflichkeiten und Kommunikationsstile (Joachim Scharloth) stehen der Körperpolitik (Pascal Eitler) und der Etablierung der neuen Frauenbewegung aus der Studentenbewegung heraus (Kristina Schulz) gegenüber.

Der Gewalt als zentrales Legitimationsproblem der '68er ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Neben dem bereits erwähnten Beitrag von Wolfgang Kraushaar steht hier der Versuch Sara Hakemis, die Gewaltbereitschaft der RAF aus der Tradition der avantgardistischen und neo-avantgardistischen Diskurse abzuleiten, und die Berichterstattung der Medien, insbesondere des "Stern" und der "Quick", über die Verhaftung Holger Meins' und Andreas Baaders im Frühjahr 1972 (Martin Steinsiefer). Steinsiefers Beitrag ist insofern bemerkenswert, als er die Darstellungsstrategien zweier politisch entgegengesetzter Massenmedien, "Quick" und "Stern", nebeneinander stellt und analysiert, die zu Spekulationen über die Abhängigkeit der Darstellung von Rücksichtnahmen auf das jeweilige Zielpublikum und Käuferspektrum einlädt.

Hakemis Beitrag hingegen leidet darunter, dass die mediale Differenz zwischen den Texten der Avantgarden und der RAF wie die historische Entwicklung ignoriert wird. Hinzu kommt ein Ableitungsproblem: Zwar weist sie darauf hin, wie dünn die Verbindung zwischen der RAF um 1970 und den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ist. Insbesondere Dieter Kunzelmann ist die Rezeption des situationistischen und spontaneistischen Ideenguts im Berlin nach 1965 zu verdanken. In ihrer Darstellung mündet jedoch die Entwicklung in die RAF (wie sie andererseits in der Bewegung 2. Juni mündet), während die Brüchigkeit der historischen Tradition und die Qualität der persönlichen Beziehungen es nahe legt, dass die RAF sich der Avantgarden nur bedient, um sich ideologisch und terminologisch aufzuladen und an die Sprechformen der Szene anzudocken.

Im Abschnitt Rückblicke findet sich ein Beitrag über den Einfluss der Studentenbewegung auf die Mode (Sabine Weißler, warum nicht im Abschnitt über Alltagskultur?) und ein Interview mit Rainer Langhans. Zumindest der Beitrag zur Mode schließt dabei an den einleitenden Beitrag von Kathrin Fahlenbrach an.

Alle Beiträge bieten ein umfangreiches Literaturverzeichnis, das mit einem knappen Kommentar zum jeweiligen Forschungsstand eingeleitet wird. Ein Namensregister hilft bei der Erschließung. Insgesamt bietet der Band ein aufschlussreiches Bild der '68er-Ereignisse, gerade auch im Hinblick auf die sich ändernde Wahrnehmung. Die Historisierung verhilft dabei zur notwendigen Distanz, allerdings hat sich der Gegenstandsbereich und seine wissenschaftliche Behandlung noch nicht so sehr verfestigt, dass von einem gesicherten Wissensbestand ausgegangen werden kann. So viel Neues und Wissenswertes das Buch damit auch bietet, es ist zugleich auch ein Dokument eines Gegenstandsbereichs, der auch nach vierzig Jahren noch nicht zur Ruhe gefunden hat. Das macht beide interessant, diesen Band wie sein Thema.


Titelbild

Martin Klimke / Joachim Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2007.
323 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783476020666

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