Der unstillbare Wunsch nach Einverleibung

Ein Interview-Band zum "Kannibalen von Rotenburg" belegt eindrücklich, wie sehr unsere Kultur immer noch nach Kannibalismus hungert

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Studie "Kannibalische Katharsis" hatte der Bonner Kulturwissenschaftler Christian Moser 2005 deutlich gemacht, wie sehr die westliche Kultur den Kannibalismus als Grenzmarker zwischen Wildheit und Zivilisation seit Beginn der Neuzeit verinnerlicht hat, dabei jedoch selbst in der Dialektik gefangen geblieben ist, die aus dem Zwang zur Abgrenzung eine immer größere, selbst kannibalisch zu nennende Lust nach Kannibalen-Geschichten entwickelt hat. Moser war der Fall des so genannten "Kannibalen von Rotenburg", der 2001 einen Berliner Ingenieur auf dessen eigenen Wunsch hin tötete und teilweise verspeiste, natürlich bekannt - er referenziert ihn jedoch nur am Rande seiner Untersuchung. Dass der Kulturwissenschaftler mit seiner Kannibalismus-These Recht behalten sollte, belegt nun das Buch "Interview mit einem Kannibalen" von Günther Stampf nachdrücklich.

Der Autor, ein ehemaliger "Bild"-Zeitungs-Mitarbeiter, hatte bereits frühzeitig das publizistische und finanzielle Potenzial im oben genannten Kannibalismus-Fall entdeckt und die Verwertungsrechte für Bücher und Filme mit dem inhaftierten Täter vereinbart. Während dieser zusammen mit seinem Anwalt gegen Versuche, aus dem Fall einen Film zu machen, juristisch zu Felde zog und auf diese Weise dafür sorgte, dass Martin Weisz' Spielfilm "Rohtenburg" hier zu Lande nicht in die Kinos kommen durfte, begann er mit Stampf die Arbeit an dessen medialer Auswertung, an deren Ende bislang ein 45-minütiger Dokumentarfilm auf RTL (im Boulevard-Magazin "Extra") und das hier zu besprechende Interview-Buch entstanden sind. Für die Recherchen ist Stampf regelmäßig zur Justiz-Vollzugsanstalt Kassel gereist und hat dort mit dem Inhaftierten gesprochen. Dies bildete zusammen mit gerichtlichen Gutachter-Texten, Zeugenaussagen sowie Interviews, die Stampf mit Verwandten und Bekannten des Täters geführt hat, die Grundlage für das 368 Seiten starke Hardcover.

Dass man mit einem zwar spektakulären, aber dennoch offenbar nicht sehr komplexen Kriminalfall ein solches Buch füllen kann, liegt zuvorderst in der unglaublichen Redundanz begründet, die der Autor seinem Text aufbürdet. In nicht enden wollender Zahl konfrontiert er seine Leser immer wieder mit denselben Phrasen des "Unverständnisses" und Wiederholungen der eigenen moralischen Entrüstung. Anstatt dem Gegenstand angesichts des öffentlichen (vor allem boulevard-publizistischen) Skandals, der ihn begleitete, nun sachlichen Abstand und Aufklärung angedeihen zu lassen, schlägt Stampf ganz im Sinne und Stil der "Bild"-Berichterstattung in dieselbe Kerbe, verbreitet Alarmismus (besonders gegenüber dem Internet), weidet sich mit doppelzüngiger Moralität an den pikanten sexuellen und kriminalistischen Details der Fall- und Tätergeschichte und streut an allen passenden und unpassenden Stellen Bibel-Zitate ein, als ließe sich ein offensichtlich sexual-pathologisch motiviertes Verbrechen durch simple Gut-Böse-Kategorisierungen moralisch fassbar machen. Das hat den Ruch nach Anbiederung an die Leserschaft, in deren Dienst auch alle übrigen Aspekte der Abhandlung zu stehen scheinen.

Erhellendes über die Tat erfährt man jenseits der Darlegung von Fakten nämlich kaum. Statt Analysen und Interpretationen liefert Stampf Spektakuläres und Nacherzählung. Die wenigen Ausflüge, die ihn an den Rand einer wissenschaftlichen Annäherung führen, offenbaren Denkfehler, Widersprüche und Allgemeinplätze. Sigmund Freud etwa, dessen Werk er gelegentlich als Zitat-Steinbruch missbraucht, hat er dabei offenbar genauso ungenau gelesen wie sein Latein- beziehungsweise Griechisch-Wörterbuch, wenn er schon zur Einleitung des Buches behauptet, "Anthropophagus" stamme aus dem "Lateinischen". Wissenschaft tritt in "Interview mit einem Kannibalen" allenfalls in den Zitaten des forensischen Psychiaters Klaus Beier auf, dessen komplette akademische Titel Stampf bei jeder Gelegenheit vollständig gleich einem Autoritätsargument aufzählt und diesen schließlich auch das Geleitwort zum Buch verfassen lässt. Stilistisch bewegt sich der also inhaltlich höchstens auf Pitaval-Literatur anzusiedelnde Text auf ebenso niedrigem Niveau. Der nach rhetorischen Verstärkungen heischende, dominierende parataktische Satzbau ermüdet den Leser schon nach wenigen Seiten, die bereits angesprochenen inhaltlichen Redundanzen leisten ein Übriges dazu. Man meint einen überlangen "Bild"-Zeitungstext zu lesen, so sehr schmiegen sich Sprachstil und Satzbau der Sprache des Boulevard an.

"Interview mit einem Kannibalen" ist im Sinne Christian Mosers ein deutlicher Beleg für die kannibalischen Gelüste selbst der heutigen Kultur. Moser verlängerte die Reiseberichte, in denen James Cook in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Menschenfressern Neuseelands erzählt, in die mediale Gegenwart bis hin zu Bret Easton Ellis' Roman "American Psycho" und Ruggero Deodatos Film "Cannibal Holocaust". In die Riege der Kannibalen-Geschichten, die erzählt wurden, weil die "westlichen Zivilisation" immer schon nichts lieber verschlungen hat als solche Erzählungen, reiht sich nun auch Stampfs Buch. Er mag den am oberflächlichen Spektakel interessierten Leser sicherlich mit seinem "authentischen Grauen" unterhalten. Darüber hinaus ist die Auseinandersetzung jedoch allenfalls für diejenigen interessant, die etwas über die moralischen Ansichten des Autors erfahren wollen oder die an der Geschichte kannibalischer Kannibalismus-Literatur interessiert sind.


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Günther Stampf: Interview mit einem Kannibalen. Das geheime Leben des "Kannibalen von Rotenburg".
Seeliger Verlag, Wolfenbüttel 2007.
367 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783936281248

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