Der exponierte Körper im Sterben

Eine "Ethik am Ende" von Jean-Pierre Wils

Von Petra RoggeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Rogge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Blutkranke liegt zur OP-Vorbereitung auf dem Spitalbett. Er ist völlig nackt, nur der Genitalbereich ist knapp bedeckt. Um ihn herum stehen zwei Krankenschwestern. Eine der beiden Frauen beginnt, den Patienten vom Oberkörper an abwärts zu rasieren. Die Andere hilft, die eingefallene Haut im Schambereich des unheilbar Erkrankten dafür straff zu halten. Als die Rasur beendet ist, hat der Protagonist in dem Sterbefilm "Son frère" (Francois Ozon 2004) seine Entscheidung gefällt: keine weiteren Untersuchungen, keine Behandlungen mehr, aber auch kein Warten auf den finalen Augenblick. Er beendet sein Leben Wochen danach mit einem Gang ins Meer.

Ein nicht unbedingt klassischer Fall für die aktuellen Wortgefechte um Sterbehilfen und Patientenverfügungen. Aber doch ein klassischer Fall für eine "Ethik am Ende", der es zuvörderst darum geht, dass ein jeder "das Recht [hat], nicht im Missklang mit seinem Leben sterben zu müssen" - und die sich hierfür von Narrationen anleiten lässt. Wenn also der Protagonist im Film für sich befindet, dass ihn die Umstände und Folgen seiner Krankheit in ein Ableben nötigen, welches immer weniger gemein hat mit dem bislang von ihm Gewohnten und er dieser verspürten Dissonanz mit dem freien Tod begegnet, so wäre dies ganz im Sinne einer "ars moriendi", wie sie Jean-Pierre Wils, Ordinarius für "theologische Ethik" der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen in seiner Arbeit "Über das Sterben" aufzeigt.

Behutsam aber konstant formuliert der Theologe für die im Insel Verlag erscheinende "Bibliothek der Lebenskunst" eine Sterbeethik für Finalisten. In reflektierter Distanz zu der Suggestivformel "Sterbekunst" bemüht sich Wils um einen "einprägsamen und verbindlichen Stil" des Sterbens und entwirft "Anleitungen zur Verbesserung unserer Kenntnis in rebus mortis".

Was erwartet nun Jean-Pierre Wils für oder genauer von Sterbenden? Der Autor denkt vor allem an ein "humane[s] Sterben". Wobei er nicht zwingend an die Notwendigkeit eines sanften oder milden Zugehens hin auf das eigene Schlussdrama glaubt. Was er aber einfordert, ist die notwendige Möglichkeit eines dem Menschen eigentümlichen Ablebens. Und dafür begibt er sich in das deutlich weite Begriffsfeld von "Angemessenheit" und "Würde". In der Annahme, dass sich "Angemessenes über das Sterben erzählen" lässt, schöpft der Autor für seine Idee von einer ars moriendi aus dem Fundus fiktionaler Literatur und versucht den Narrationen "Die schlimmste Nacht" (Aleksandar Tisma), "Der eigene Tod" (Péter Nádas) und "Die Geschichte meines Todes" (Harold Brodkey) eine "Moral des Sterbens" und im weiteren eine "Moral der Sterbehilfe" zu entlocken.

Exemplarisch für sein Vorhaben steht eine weitere, von Wils lediglich als Szenenausschnitt vorgestellte Geschichte über das Sterben. In dem Roman "Gnade" (Linn Ullmann) legt der im Endstadium seiner Krebserkrankung befindliche Protagonist seiner Frau dar, dass er auf ein für sich humanes Ableben hofft. Sie hält dagegen: "Du sprichst von Würde. Es gibt keine Würde, Johan. Ein sterbender Mensch, ob alt oder krank oder beides, wird infantilisiert - zuerst von der Natur, dann vom Gesundheitswesen. Hältst du das für Achtung vor dem Leben? [...] Ich will dich nicht so sehen. Ich will das nicht."

Wils deutet diese Aussage, die sich als Sterbehilfe-Angebot von Seiten der Partnerin zeigt, als Ausdruck eines "Recht[s] auf Kontinuität, auf einen Zusammenhang zwischen dem einstigen Leben und dessen letzter Phase, dem Sterben" - und er fädelt diesen szenischen Einfall in seine Sterbekunst-Idee ein. Wer im Leben souverän war wie Johan, so der Grundgedanke von Wils, der soll auch im Ableben noch überlegen sein können - und im Fall lieber den freien Tod wählen, als infantilisiert dem finalen Moment entgegenzuschmerzen.

Auffällig ist hier vielleicht, dass Wils ganz selbstverständlich von einem Recht auf Zuschreibung durch den Anderen ausgeht. Da er in seiner Szenenauslegung nicht unterscheidet zwischen dem Sterbenden und der Partnerin, die ihn infantil und würdelos nicht zu sehen wünscht, kann er unerwähnt lassen, dass der Sterbende eigentlich an ein ihm angemessenes finales Stadium glauben möchte. Wohingegen seine Partnerin zu wissen scheint, dass Angemessenheit für ihn nur zu haben ist, wenn dem einfachen Geschehenlassen vor dem Souveränitätsverlust Einhalt geboten wird.

Darauf läuft auch die Aussage der obigen Filmszene hinaus: Um seiner "Lebensbilanz" das Element des Infantilen durch die biologisch-natürlichen und medizinischen Gegebenheiten nicht hinzufügen zu müssen, um für sich intakt zu bleiben, tritt der Blutkranke quasi spontan aus dem spitalen System heraus und dann von der Lebensbühne ab. Im Sinne der von Jean-Pierre Wils verfolgten "Ethik der Angemessenheit" wäre es "gegen alles, was gut und schön und lebendig ist" (Linn Ullmann), wenn Sterbende in einen Tod hineingelenkt werden, "auf dessen Wegstrecke ihnen ihr Leben abhanden kommt". Deshalb drängt der Theologe mithilfe des Stoikers Seneca darauf, "sich bis in den Tod hinein um [die eigene] Lebensart aktiv zu bemühen". So wäre das willige Hinnehmen der eigenen Sterblichkeit die eine Sache, die andere sollte sein, selbst gestalten zu können, auf welche Weise man stirbt (Wils nennt dies positiv eine "schwache Version der Autonomie").

Das klingt natürlich nicht schlecht. Aber auch nicht zwangläufig gut. In dem Sterbefilm etwa gibt es noch eine weitere Szene, die ob der Dramatik von Schmerz und Souveränitätsverlust durch bloßstellende medizinische Maßnahmen und den spannungsreichen Blick auf das Unabänderliche allzu leicht übersehen wird: Die behandelnde Spitalärztin ist nämlich durchaus der Ansicht, dass der Patient sein Leben "en très bonne santé" weiterführen kann. Was er dafür hinnehmen müsste, wäre seine dauerhafte körperliche Instabilität, das Bewussthalten der Gefahr des hämorrhagischen Schocks und dessen Folgen, also das in beständiger "ästhetischer Sorge" um sich selber sein. Während der mit der Diagnose leben müssende Patient seinen exponierten Körper ganz im Hinblick auf Intaktheit deutet und er sich im Wissen um den ständig präsenten Schmerz für den freien Tod entscheidet, wählt die Medizinerin für ihn die "normative Orientierung" des Vagen - und wäre vermutlich vorsichtig bei Einflussnahmen aktiver Art. In ähnlicher Weise entscheidet die Romanautorin Ullmann, wenn sie über den Schluss hinaus offen hält, wie und wann der finale Moment für die Sterbeperson Johan gut ist; was Jean-Pierre Wils allerdings unerwähnt lässt.

So ist einerseits ein deutlicher Knoten in Wils rotem Gedankenfaden, denn solche Begriffe wie Angemessenheit und Würde sind in mannigfacher Hinsicht dehnbar - und gerade dem vom Autor herangezogenen Narrativen ist an sich das offene Spiel damit fest eingeschrieben. Andererseits aber ist die gesamte Arbeit des Theologen auch nicht auf Fixation aus bei der Frage, ab wann ein bestimmter Zustand in der Situation des Ablebens einer (Bei)Hilfe bedarf und wie solche unterstützenden Maßnahmen auszusehen haben. Seine Überlegungen sind eigentlich nur von dem Ziel beseelt, die Kultivierung eines Sterbestils voranzutreiben, bei dem das jeweils zu Grunde Gelegte zunächst genauestens in Augenschein genommen wird. So gehen seine Fragen eher in die diskursiven Tiefen des Sterbeumfelds: Auf welche Weise erscheint der Schmerz oder das Leiden in den finalen Phasen und welche "lindernden Ressourcen" werden angewandt? Auf welches Wissen wird beim Umgang mit finalen Momenten rekurriert und was eigentlich ist - in moralischer Hinsicht und unter Einbeziehung des bis dahin Erläuterten - unter Sterbehilfe zu verstehen?

Wie geht Jean-Pierre Wils also vor, wenn er beispielsweise dem Verstehen des Schmerzes beim Zugehen auf den Tod hin mit einer Anleitung, einer Handreichung begegnen möchte? Zunächst nimmt er, das Sterben als "Anthropologicum" denkend, den dem Ableben zugehörigen Schmerz als eine menscheigene Konstante auf. Da die Erscheinungsweisen des Schmerzes, wie der Autor meint, durch das spirituell Anästhesierende religiöser Denkbewegungen "zum Schweigen gebracht" wurden, ist es sein vordringliches Ziel, den "Schmerz selbst erst zu Worte kommen" zu lassen.

Hier zeigt Wils mithilfe von Elaine Scarrys phänomenologisch ausgerichteten Schmerzanalysen ("Der Körper im Schmerz"), wie sehr fremd der Schmerz sowohl für die selber im Schmerz Seienden wie auch für die den Schmerz nachvollziehenden Anderen ist. Diese Fremdheit kann, so der Theologe, am besten in einem narrativen Sinne überwunden werden, denn der "Schmerz klebt noch an den Worten, die ihn mitzuteilen versuchen. Sowohl derjenige, der über den einstigen Schmerz berichtet, als auch die Person, die den Schmerz anderer zur Sprache bringt, tritt in die semantische Membran ein, in der das Schmerzerlebnis gewissermaßen noch nachzittert. Sie macht dieses Erlebnis verständlich."

Wem also im Schmerz die Sprache verloren geht, der kann nach dem Schmerz das Schmerzerlebnis als erzähltes Leiden in seinen Lebensverlauf so einbetten, dass "ein Lebensganzes" wieder herstellbar wird. Wils denkt hier zwar nicht daran, dem Schmerz sinnstiftende Elemente wie etwa Schuld oder Erhellung zuzuschreiben. Eher geht er im Sinn einer "narrative[n] Bioethik" (David B. Morris) vor, wenn er in den Leidensgeschichten die oben erwähnten lindernden Ressourcen zu entdecken vorhat, um sie dann für die Finalisten und Sterbebegleiter offen zu legen. Und da solche Geschichten im Hinblick auf die eigene Lebenskontinuität erzählt und gelesen werden, lassen sie für Jean-Pierre Wils "eine eigene moralische und biographische Vernunft" erkennen. Für die von ihm vorgestellte "Ethik am Ende" bedeutet die narrative (neben der normativen) Orientierung, dem "Erscheinungsbild des Schmerzes" insofern näher zu kommen, als nachlesbar wird, welcher Möglichkeitsspielraum sich jenseits des "Entgegenschmerzens" für Finalisten (und ihre Begleiter) denken lässt.

Dass der Autor die herangezogenen Narrationen für seine Idee von einer ars moriendi erzieherisch aufwertet und die dem Literarischen an sich innewohnenden subversiven Elemente vernachlässigt, macht vielleicht etwas unruhig. Denn die Erzählungen über das eigene nahe beim Sterben sein arbeiten natürlich, wie der alltagspraktische Umgang auch, mit dem emotionalen Gefäß der Sprache. Und die neigt dazu, sich durch gemeintes Wissen über Sterben und Tod verführen zu lassen, so wie sie immer auch auf andere korrumpierend einwirken kann.

Wie zukünftig mit der Vielfalt von Todesarten und Sterbeweisen im Hinblick auf die von Jean-Pierre Wils intendierte "Sorge für ein sanftes Sterben" tatsächlich umgegangen wird, hängt möglicherweise weniger davon ab, ob hinreichend Anästhetika in normativer oder narrativer Hinsicht für Sterbende zur Verfügung stehen, sondern welches Deutungsspektrum für den Verlauf finaler Momente angelegt werden wird.


Titelbild

Jean-Pierre Wils: ars moriendi. Über das Sterben.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
285 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783458173755

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